Martin mit Schwimmweste auf historischem Ewer

Eine Ewerfahrt

Wir kommen zeitig weg und sind rechtzeitig zur Führung im Rieck Haus (Freilichtmuseum in Hamburg-Bergedorf). Das ist ein Ensemble eines alten Bauerngehöfts mit Backhaus, Getreibegaben-Depot und einer Mini-Windmühle, mit welcher man die Felder zu entwässern pflegte. Hier im Überflutungsgebiet der Elbe hat man in vergangenen Jahrhunderten sehr viel Fantasie und und Arbeit aufgebracht, den eigentlich sehr fruchtbaren, aber auch gefährdeten Boden zu bestellen. Dies geschah naturgemäß ohne künstliche Energie, nur mit Handkraft, Wind und mit der Hilfe von Pferden. Man war dabei so erfolgreich, dass man angebautes Gemüse bis nach Hamburg verkaufen konnte. Dies alles erzählt uns ein „Ernst“, ein gar nicht ernster, sondern lustiger, kluger, alteingesessener Ur-Bergedorfer bei unserer gebuchten Führung. Er hat einiges von diesen alten Bräuchen als Kind nach dem Krieg noch selbst erlebt. Wir, die Gruppe, deren Leitung er übernommen hat, sitzen um einen alten, langen, rechteckigen Tisch, der „den dreißigjährigen Krieg noch überlebt hat“. Man hat uns Tee und Kaffee hingestellt, Beides gibt es normalerweise erst nach Abschluss der gesamten Runde, die von Bergedorf mit Führung durchs Schloss, Ewer-Fahrt auf der Dover Elbe bis zum Rieck Haus vier Stunden dauern soll. Wir machen die Reise in die andere Richtung und fangen mit dem Kaffee an. Es ist unser erster, richtiger Ausflug in diesen Ferien, die wir in diesem Jahr mehr oder weniger vor der Haustür verbringen wollen. Wenn Deutschland als „vor der Haustür“ durchgeht. Die Temperaturen passen, das Wetter ist schön, und obwohl es erstrebenswert wäre, hier mit dem Fahrrad anzureisen, nehmen wir von Lüneburg aus das Auto, was ca. 45 Minuten über die Autobahn benötigt.

Schleusenanwärter

Nachdem wir nochmal alle auf dem Lokus mit dem schönen Namen „Tante Meier“ waren, werden wir von einem Mitarbeiter des Freilichtmuseums zum Nachbau eines Ewer-Schiffes geleitet, wie es jahrhundertelang als Transportboot diente. Das Anbringen der selbstaufblasbaren Schwimmwesten sorgt für Erheiterung, aber schließlich haben wir es alle geschafft. Wir sind eine circa acht frau,- und mannstarke Mannschaft, plus ein Kind. Obwohl der Ewer traditionell gestakt, getreidelt oder gesegelt wird, hat unser Exemplar einen gar nicht mal so lauten Diesel in Gebrauch. Neben der Mannschaft gibt es einen Kapitän und einen Matrosen. Der Kapitän trägt Vollbart, der Matrose Mütze und Pferdeschwanz. In gemächlichem Tempo geht es los. Die Uferböschungen, samt ihren Anbauten, Stegen, Häuschen und Villen, samt einer Werft, einer Schleusenanlage, einer Autobahn und Sonnenbadenden gleiten an uns vorbei. Die Fahrt dauert ca. 1 Stunde, inklusive einer kurzen Liegezeit. Die wird benötigt, um die Ampel der Schleuse auf grün springen zu lassen.  Währenddessen werden wir verfolgt und von den Insassen – eine Runde aus vier Männern mit Sonnenbrillen – eines kleinen Sportbootes befragt. Sie wollen wissen, ob sie sich bei der anstehenden Schleusenfahrt zu uns gesellen dürfen und, wenn ja, in welcher Reihenfolge. Natürlich wollen sie zuerst, was unser Kapitän aber ablehnt. Die Schleuse füllt sich weitere 45 Zentimeter hoch mit Wasser, wie unser Käpt’n zu berichten weiß. Das geht schneller als erwartet.

“Drama” mit Drachenboot

Als sich die Schleusentoore wieder öffnen befinden wir uns schon fast in Bergedorf, nur eine 2,5 Kilometer lange “Ewerautobahn”, an deren Rändern sich Neubausiedlungen emporheben, will noch abgefahren werden. Doch halt ! Kurz vor Einfahrt in das Hafenbecken betätigt unser Kapitän sein Nebelhorn. Ein dumpfer, durchdringender Klang hallt von den Häuserschluchten wider und wir stoppen die Fahrt. Kurz vor uns, in Sichtweite, starten zwei Drachenboote, voll mit Menschen, die um die Wette fahren. Denen wollen wir nicht in die Quere kommen. Als auch das geschafft ist werden wir von winkenden Leuten, Jahrmarktsmusik, Crêpe-Duft und großem Halli-Hallo empfangen, denn in Bergedorf ist Stadtfest. Rund um den Hafen sind Buden aufgebaut und der Jubel und Trubel gilt nicht unbedingt uns, obwohl die Einfahrt eines historischen Ewers durchaus Aufmerksamkeit und vielleicht auch ein bisschen Neid bei den Barkassen-Touristen hervorruft.

Mühle und Kirche

Nachdem unsere Truppe-Gruppe ausgestiegen ist (Achtung auf den Spalt zwischen Bordsteinkante und rettendem Ufer), versammeln wir uns neu. Wir verabschieden und bedanken uns bei unseren Schiffsführern und begrüßen unsere neue Führerin, die dritte und letzte auf unserer Reise, eine Historikerin. Sie ist in den Menschenansammlungen gut auszumachen, denn sie trägt ein knall-orangenes T-Shirt. Außerdem hat sie Informationsmaterial in den Händen, in welches wir gleich Einblick nehmen dürfen. Sie erzählt über Geschichte und Entwicklung von Bergedorf, seinem Reichtum in früheren Zeiten, der auch vom Betrieb einer großen Mühle im Ortskern herrührte. Die Bauern mussten, ob sie wollten oder nicht, ihr Korn dort mahlen. Dafür wurden Abgaben fällig. Die machten den Müller nicht gerade zu einem beliebten Menschen. Weiter geht es jetzt zur Bergedorfer Kirche, welche, wie innen unter anderem durch zahlreiche, aufgehängte Gemälde zu erkennen, den Eindruck des Reichtums verifiziert. Ausserdem haben sich die Bergedorfer den Luxus geleistet, ihren Kirchturm, nicht wie in diesen Zeiten und Orten üblich extern zu installieren, sondern „anzuheften“, ans Kirchenschiff.

Schluß im Schloß

Das Besondere nun am Bergedorfer Schloss ist sein Bestehen aus Backstein. Typische Renaissance-Giebel zieren die Südwest-Flanke, mit Blick auf den doppelten. Hier stand im Mittelalter noch eine ganz simpel konstruierte Burg, mit Wällen, Palisaden, Gräben und einem einzelnen Turm. Vor Erfindung des Backsteins konnte man – anders als in Süddeutschland – keine geschlossenen Schlösser bauen. Es gab nur wenige Feldsteine, Findlinge und natürlich jede Menge Holz, hier in Form des Sachsenwaldes quasi vor der Haustür. Der Holzbedarf reichte bis nach Lüneburg mit seiner gefräßigen Saline. Holz war das Öl des Mittelalters. Und es wurden auch schon Kriege um diesen Rohstoff geführt. Im Falle Bergedorfs war dies ein Krieg gegen die Übermacht von 4000 Söldnern, die, von den verbündeten Hansestädten Hamburg und Lübeck finanziert wurden, um sich mit Gewalt einen Zugang zu dem wertvollen Sachsenwald zu beschaffen. Erfolgreich, wie man leider konstatieren musste. Man bezichtigte die Bergedorfer des „Raubrittertums“, um einen Vorwand zu haben, sie zu überfallen.

Schlager und Folter

Da das Schloss wegen Renovierungsarbeiten im oberen Stockwerk nur teilweise zu besichtigen war, wird uns diese Historie während des Aufenthaltes in den Kellergewölben und Wehrgängen erzählt. Diese sind sehr niedrig, wie eine Beule an meinem Kopf berichtet. Nach kurzem Aufenthalt in einer Art „Waffenkammer“, gab es neben Spießen, Schwertern, Hellebarden, auch allerlei „Folterinstrumente“ zu besichtigen. Das versetzte das Gemüt unseres Gruppen-Kindes allerdings nicht in Angst und Schrecken, sondern eher in eine Art freudig-nervöser Aufregung. Anschließend gelangten wir durch einige halsbrecherische Treppenstufen wieder in den Eingangsbereich des Schlosses. Ein Bummel durch den Schlossgarten, der allerdings durch herumliegenden Müll und „Rummel“ einer Schlagerkapelle in seinem Vergnügen eingeschränkt wurde, rundet unseren touristischen Vormittag ab. Wir haben es sehr genossen und wir haben viel dabei gelernt. Und weitere Inspirationen erhalten darüber, was es quasi direkt vor unserer Haustür so alles zu entdecken gibt. Da ist noch viel mehr.

Ein Bahnhof mit Gleisen und Bergen im Hintergrund, sehr verloren

Von Mainz nach München – und zurück ?

Vorspann

Heute habe ich, für die Weiterreise, einen Eurocity gebucht. Ich habe ja noch meine Bahncard. Aus Kostengründen genehmige ich mir aber einen Super-Sparpreis. Das heißt Zugbindung. Das heißt: so früh am Mainzer Hauptbahnhof zu sein, dass ich den Zug in jedem Fall bekomme, also eine knappe Stunde vorher. Das heißt: einundhalb Stunden vor Abfahrt, weil der Zug natürlich 30 Minuten Verspätung hat. Das heißt Geld ausgeben: für Kaffee, für Zeitung, für ein Buch. Das heißt: die Ersparnis des Super-Sparpreises ist futsch. Erkenntnis: beim nächsten Mal lieber ein stornierbares Angebot wählen ! Der auf diese Art “erhöhte” Preis ist in seinen Folgen aber durch die Tatsache abgemildert, dass ich von meiner Familie “Fahrgeld” bekommen habe. Und zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass das Buch, welches ich bei “Replay” erstanden habe, als Geschenk dienen wird. Vielleicht. Vielleicht lese ich es aber auch lieber selber. Es ist immerhin der neue “Strelecky” mit dem schönen Titel: “Wenn Du Orangen willst, such nicht im Blaubeerfeld”. Übersetzt auf eine Reise mit der Bahn könnte man sagen:

Wenn Du nach Stuttgart willst, fahr nicht nach München

Also dieser zweite Teil der Reise verläuft dann in Folge ziemlich problemlos – zumindest für mich. So ist das. So kann das auch sein. Ich bin in einem Zug, dessen Hauptziel Klagenfurt ist. Er tuckert von EC-Bahnhof zu EC-Bahnhof. Es läuft problemlos – mit einer Einschränkung: Alle, die nach Stuttgart wollen, werden enttäuscht sein. Der Zug hält dort nicht. Das ist wohl die Lösung der „Reiseleitung“ in Sachen Pünktlichkeitsproblem, denn der Zug war schon mit ca. 30 Minuten Verspätung in Mainz angekommen. So wird ein bestimmter Bahnhof auf der Reise einfach mal nicht angefahren: Stuttgart. Die Leute könnten ja in Esslingen umsteigen. Das kommentiere ich hier jetzt einfach mal gar nicht. So. Ich bin in München, und hier gehen die Uhren eh anders. Also pünktlich. Und „sauber“. Obwohl ich Städte eigentlich nicht mag, die „Obdachlosigkeit“ zu einem „ästhetischen Problem“ machen, also aus dem Straßenbild zu verbannen versuchen. Wie neuerdings wohl auch die Stadt New York. Zum Glück gelingt es ihnen hier in der bayrischen Hauptstadt nicht ganz. Man sieht viele Menschen, die man früher wohl als “Originale” bezeichnet hätte.

Rückfahrt mit Zwischenstopps

Die Rückfahrt geschieht zwei Tage später über Würzburg. Am Vorabend gebucht, kommt mir die Reise trotz Bahncard 25 recht teuer vor, ca. 44€. Und dann ist der Plan, in Würzburg über Schlüchtern, Bebra, Fulda mit Nahverkehrszügen zu fahren. Aber diesen Plan werfe ich, schon im Zug sitzend, über den Haufen. Ich warte zehn Minuten und dann steige ich aus, weil die Wahrscheinlichkeit, schon den ersten Anschluss zu bekommen, gen null tendiert. Offensichtlich hat es an der Böschung in Höhe Veitshöchtsheim einen Brand gegeben. Einen Böschungsbrand. Der sei zwar angeblich schon wieder gelöscht, aber „mit Verspätungen sei zu rechnen“. Sowohl die Anzeigentafel, als auch die Anzeige in der App suggerieren zwar Pünktlichkeit, aber die Realität ist eine andere. So steige ich wieder aus. Ich hatte mir schon auf der vorher gegangenen Fahrt überlegt in einem solchen Falle, so zu handeln, deswegen zögere ich jetzt nicht mehr. Ich drehe eine Runde durch Würzburg, nehme ein Falafelsandwich (Gute Idee!) und dann setze ich mich in den ICE nach zunächst Fulda. Von Fulda aus möchte ich einen zweiten Versuch starten, mit Nahverkehrszügen zu fahren, ich weiß allerdings nicht, ob es meine Abenteuerlust zulassen wird. Diese ist nämlich schon ziemlich gestillt. Der ICE in Würzburg ist nämlich ausgerechnet einer, der nicht nur nach Hamburg fährt, sondern sogar in Lüneburg hält. Und ich bin jemand, der Versuchungen selten widerstehen kann.

Einmal was Verbotenes tun !

Und ich konnte es nicht. Ich steige in Fulda aus dem Zug aus. Es regnet. Meine Vorstellung ist die: ich sitze im RE, ohne WLAN, der Regen prasselt an die Scheibe und nach dem schwülen Münchener Sommer fühlt sich das an wie ein Märchen der Brüder Grimm, aber eines der bösen. Ich steige im nächsten Wagon wieder in den ICE. Meine Bahn-app schlägt mir vor, doch das Ticket für 71,40€ zu kaufen, ich zögere kurz. Ich frage mich, welche Möglichkeiten es gibt, dem zu entkommen: Wenn ich auf meinem Platz bleibe ist die Wahrscheinlichkeit sofort kontrolliert zu werden, ziemlich hoch. Wenn ich dagegen ins Restaurant gehe, nur ein Wagon weiter, habe ich vielleicht die Chance, wenigstens eine weitere Haltestelle zu überspringen. Ich präpariere meine App so, dass ich, im Falle einer Fahrschein-Kontrolle, nur noch auf „jetzt kaufen“ drücken muss. Ich nehme mir vor, so lange nicht zu klicken, bis ein Schaffner oder eine Schaffnerin direkt auf mich zu kommen. Das könnte natürlich auch von rückwärts geschehen…und siehe da, ein Schaffner kommt aus der Kombüse des Restaurants. Wenn er jetzt in meine entgegengesetzte Richtung läuft, dann würde ich nicht klicken, dann würde ich es wenigstens bis Kassel-Wilhelmshöhe riskieren, kein Ticket zu haben. Leider kommt er aber in meine Richtung. Kurz bevor er auf meiner Höhe ist, erwarte ich seine Ansprache. Doch sie kommt nicht. Er geht einfach vorbei an mir. Zwischenzeitlich habe ich aber geklickt. Bah.

Bebra-Blues

Ich sitze also im Restaurant, habe gerade noch Kleingeld für einen Café Crema, 3,80€ – also einen kleinen Café Crema ! Der Kellner ist freundlich, ich brauche nicht gleich zu bezahlen. Schaue ihm in Folge aber zu, wie er verzweifelt versucht eine „Zwischeninventur“ zu machen. Denn er muss dokumentieren, ob einer seiner Kollegen nicht etwas hat mitgehen lassen. Willkommen in Deutschland. Er hat sich zu mir an den Tisch gesetzt. Er ist mir sympathisch. Trägt Freundschaftsarmbänder. Und er schimpft über das WLAN im Zug. Er muss es wissen. Er fährt jeden Tag. Wir fahren weiter bis Bebra. Ein Nicht-Ort im nordhessichen Niemandsland. Am Bahnhof macht unsere Fahrt wegen einer Baustelle einen Betriebshalt und ich frage mich in Folge, ob ich mit dem 49-Euro-Ticket nicht vielleicht sogar schneller zuhause gewesen wäre. Und ich wäre dabei auch über Bebra gefahren. Himmel! Ein Güterzug sei auf der Strecke liegen geblieben…und dann hätten wir noch Gegenverkehr. Na ja. Ganz so schlimm wurde es dann nicht. Nur 25 Minuten Verspätung, aus welcher im Verlauf der weiteren Reise aber 15 Minuten werden. Und ich kann die Zeit durch Schreiben nutzen. Zugfahren heißt: Zeit zum Schreiben haben.

Mittendrin in der Krise ?!

rechts rein, links raus, oder was ?
Bleibt das jetzt so ? Hier hören

Abstand halten, Hände waschen, Mund,-Nasenschutz, Eltern nicht treffen, Bruder nicht treffen, Patentante nicht treffen, nur drei Leute im Kino, einen fremden Menschen umarmen (einfach so), Zoom-Konferenzen, Streaming-Festival, das Theater nur ein Drittel voll, den Hinterausgang benutzen, Kontaktverfolgungsformular ausfüllen, Agentur für Arbeit nur online, zu heiße Sommer, mehr Fahrrad fahren, mehr digitale, weniger physische Präsenz, oft allein oder zu zweit, selten in der Gruppe…

geht alles gar nicht

Und das alles mehr oder weniger von einem Tag auf den anderen. Bei mir war es vom 13. auf den 14. März 2020. Bei mir war es mitten in einer Theaterprobe als uns verkündet wurde, daß das Theater jetzt erst einmal schließt. Okay, eine Zeit lang war alles viel schlimmer. Man durfte gar nicht ins Cafe oder ins Kino, ging alles gar nicht. So gesehen ist das ja jetzt eine Verbesserung, oder ? Warum nur beschleicht mich das seltsame Gefühl, dass es mit der Erfindung eines Impfstoffes gegen das Virus dennoch vieles nicht wieder so sein wird wie vor dem Lock-Down ? Es wird auch nicht alles schlimmer sein, vieles sogar besser.

davor und danach

Es freute mich, wenn wir auch “danach” noch respektvollen Abstand zueinander wahren würden, nicht immer so ellenbogenmäßig rempeln, beispielsweise. Auch wäre es gut, wenn ich alle meine Meldungen bei der Agentur für Arbeit auch weiterhin online tätigen kann. Ich habe Freude an webinars und Zoom-Konferenzen. Ich fahre auch nicht gerne wegen jedem Popel überall hin. Gut auch, wenn ich vieles von zu Hause aus erledigen kann.

ungezwungen ?

Nur diese Ungezwungenheit, wenn wir die nicht zurück bekämen, das fände ich schade. Ich mag es nämlich nicht so, wenn ich bei jeder alltäglichen Handlung ständig darüber nachdenken muss, ob das jetzt geht oder nicht. Ich wäre in meinen Alltagshandlungen gerne wieder spontaner. Auch, wenn ich es gut finde, Zeit zu haben, darüber nachzudenken, welche Folgen für Menschen und Umwelt meine täglichen Handlungen haben. Das ist nämlich dringend nötig, und das Vor-Corona-Hamsterrad hat mir das nicht erlaubt, nachzudenken. Und auch Muße zu haben, um zu überlegen, wie ich persönlich meinen Beitrag leisten kann. Auch, wenn das sau-unbequem ist.

das “neue normal”

Na ja – ans “neue Normal” gewöhnt man sich ja irgendwann – nur: meine 80 jährige Mutter (welche an einer Vorerkrankung leidet) einfach mal so, ohne nachzudenken, in den Arm nehmen können, das fehlt mir. Auch, wenn sie 500km entfernt wohnt. Aber zu wissen, dass ich es könnte, wenn ich es denn wollte. Das wäre schön.

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Familie: alles wie immer

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Meine 85-jährige Patentante Edith ist seit Wochen im Lockdown. Trotz stabiler Gesundheit, geistig wie körperlich, leidet sie als Single natürlich gelegentlich unter der Isolation. Da es mir als freischaffendem Schauspieler gerade ähnlich geht, beschloss ich sie, im April und Mai diesen Jahres, des öfteren mal anzurufen. Das ist auch alles gut, und es war schön ihre Stimme zu hören. Eine Stimme, die natürlich seit Kindheitstagen vertraut ist, und damit einen Rest an Stabilität, oder “alles wie immer” vermittelt.

Das nicht “alles wie immer ” ist, merke ich hauptsächlich dadurch, dass sie gar nicht mehr aufhören kann zu reden, die Gespräche also etwas einseitig verlaufen. Man muss zwei Dinge über meine Tante Edith wissen. Erstens war sie, die Jahrzehnte lang Grundschullehrerin war, wie gesagt, geistig immer fit. Und zweitens war sie 45 Jahre lang eine begeisterte Reiterin, sogar mit eigenem Pferd.

Jetzt ist sie ja schon lange keine Lehrerin mehr, und auch mit dem Reiten ist es seit einem Fahrradunfall vor vier Jahren vorbei, von heute auf morgen. Das mit dem Fahrradunfall ist ja auch so eine Sache. Da reitet ein Mensch jahrzehntelang auf einem Pferd, drinnen & draußen, jeden Tag, immer wieder und nichts passiert. Dann steigt die alte Dame einmal auf ein Fahrrad und verunfallt so schwer, dass ihr ein Stück des Innenohrknochens abbricht und seitdem frei herumschwebt. Nachdem schon alle dachten, sie würde dement werden, hat sie sich von den anfänglichen Wortfindungsschwierigkeiten erholt. Was blieb war eine ziemlich dolle Schwerhörigkeit auf dem betreffenden Ohr. Mittlerweile denke ich allerdings, die Demenz ist zurückgekehrt – aber das ist eine andere Geschichte.

Stimmgerät

Als ich Edith vor einem halben Jahr zum 80.Geburtstag meiner Mutter wiedertraf, erzählte sie mir von ihrem dritten Hobby, nämlich der Musik. Zeit Lebens spielt sie nämlich schon Gitarre – klassische Gitarre. Was ich in meiner frühen Adoleszens zwar uncool fand, mich aber doch beeindruckte und auch beeinflusste, denn sonst gab es ja kaum Kreative in meiner Familie. Man kann sich vorstellen, dass Gitarre spielen schwierig wird, wenn man auf einem Ohr fast taub ist. Noch schlimmer sei, so Edith an diesem Geburtstagsnachmittag, nur das Stimmen der Gitarre. Das sei nämlich fast unmöglich geworden. Meinem lieben Bruder Michael und mir entfuhr es fast gleichzeitig, dass es dafür mittlerweile ja elektronische Stimmgeräte gäbe. Ein prima Weihnachtsgeschenk, dachten wir beide wohlmöglich auch gleichzeitig.

Natürlich war ich es, der dieses Geschenk dann machte.

Im Frühjahr dann also der erste Anruf: “Du, Edith, wie geht es ? Undsoweiter. “Bist du mit dem Stimmgerät klar gekommen ?” Es stellt sich heraus, dass es einen Nachbarn gibt, der ihr öfter mal kleine Gefälligkeiten erweist. Und so auch diesmal. Es ging um das Einlegen der Knopfzelle, “aber ja, sie käme damit prima klar”, “nach allem, was sie beurteilen kann”, sei die Gitarre jetzt wieder stimmfähig, und auch schon gestimmt und sie könne endlich wieder spielen. Bingo !

Stufe 2

Nachdem also die erste Stufe des “wir-bringen-Patentante-in-Schwung”-Projektes gelungen war, wurde ich mutiger. Ich bin ja auch nicht ganz uneigennützig. Es ist nämlich so, dass ich selber Gitarre spiele und selbstgeschriebene Lieder zum Besten gebe. Nur gefühlt “weiß das kaum einer”. Nicht mal die engsten Familiemitglieder, also auch meine Tante Edith, sind sich dieses meines Hobbies bewusst. Das muss sich ändern. Ich muss dafür sorgen, dass meine Tante Edith von meiner Musik erfährt, und mich bewundert. Ich möchte gerne für meine Musik bewundert werden, und sei es von meiner 85-jährigen, halbtauben Patentante.

Zum Glück bin ich in Besitz einer homerecording-Einheit. Ich kann also, ganz einfach und halb-professionell, CDs mit meiner Musik herstellen und, z.Bsp. an Patentanten verschicken. Theoretisch. Jetzt ist es ja so, dass während des Lockdowns ältere Mitbürger angehalten sind, sich auf ihre “alten Tage hin” nochmal ganz doll mit Computer und so zu beschäftigen, damit sie nicht so vereinsamen. Ist im Prinzip auch eine gute Idee. Wenn es denn funktioniert. Hätte meine Tante Edith schon skype, dann hätte ich ihr ganz sicher gut erklären können, wo sich der Knopf für das Öffnen des Computer-Laufwerkes zum Abspielen meiner Musik-CD befindet. Ganz zu schweigen vom Auswahlschalter ihres Hifi-Verstärkers, um ihren CD-Player in Schwung zu bringen – das wäre die zweite Möglichkeit, meine CD abzuspielen.

So, wie es jetzt ist, klappt es ganz und gar nicht: Sie liefert mir am Festnetztelefon in übersteuerter Lautstärke eine Komplettbeschreibung ihres Laptops, allerdings ohne eine einzige Information zur Lösung unseres Problems. Ich halte den kabellosen Hörer sehr weit weg von meinem Ohr. Ich möchte vermeiden , dass sich bei mir nicht auch noch ein Hörknöchelchen löst, und verfluche dabei innerlich lautstark nicht nur das Virus, sondern auch ihren CD-Player. Meine Herren, warum kaufen sich die alten Leutchen denn diese ganzen Geräte, wenn sie sie dann nicht benutzen ?

Jetzt, einen Monat später, ist das Thema noch immer nicht erledigt. Zumindest höre ich nichts mehr von ihr. Das liegt nicht etwa daran, dass ich jetzt auch auf einem Ohr taub geworden bin, sondern, dass ich keine Lust mehr habe, anzurufen. Also irgend wie “Alles wie immer”.

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