Martin mit Schwimmweste auf historischem Ewer

Eine Ewerfahrt

Wir kommen zeitig weg und sind rechtzeitig zur Führung im Rieck Haus (Freilichtmuseum in Hamburg-Bergedorf). Das ist ein Ensemble eines alten Bauerngehöfts mit Backhaus, Getreibegaben-Depot und einer Mini-Windmühle, mit welcher man die Felder zu entwässern pflegte. Hier im Überflutungsgebiet der Elbe hat man in vergangenen Jahrhunderten sehr viel Fantasie und und Arbeit aufgebracht, den eigentlich sehr fruchtbaren, aber auch gefährdeten Boden zu bestellen. Dies geschah naturgemäß ohne künstliche Energie, nur mit Handkraft, Wind und mit der Hilfe von Pferden. Man war dabei so erfolgreich, dass man angebautes Gemüse bis nach Hamburg verkaufen konnte. Dies alles erzählt uns ein „Ernst“, ein gar nicht ernster, sondern lustiger, kluger, alteingesessener Ur-Bergedorfer bei unserer gebuchten Führung. Er hat einiges von diesen alten Bräuchen als Kind nach dem Krieg noch selbst erlebt. Wir, die Gruppe, deren Leitung er übernommen hat, sitzen um einen alten, langen, rechteckigen Tisch, der „den dreißigjährigen Krieg noch überlebt hat“. Man hat uns Tee und Kaffee hingestellt, Beides gibt es normalerweise erst nach Abschluss der gesamten Runde, die von Bergedorf mit Führung durchs Schloss, Ewer-Fahrt auf der Dover Elbe bis zum Rieck Haus vier Stunden dauern soll. Wir machen die Reise in die andere Richtung und fangen mit dem Kaffee an. Es ist unser erster, richtiger Ausflug in diesen Ferien, die wir in diesem Jahr mehr oder weniger vor der Haustür verbringen wollen. Wenn Deutschland als „vor der Haustür“ durchgeht. Die Temperaturen passen, das Wetter ist schön, und obwohl es erstrebenswert wäre, hier mit dem Fahrrad anzureisen, nehmen wir von Lüneburg aus das Auto, was ca. 45 Minuten über die Autobahn benötigt.

Schleusenanwärter

Nachdem wir nochmal alle auf dem Lokus mit dem schönen Namen „Tante Meier“ waren, werden wir von einem Mitarbeiter des Freilichtmuseums zum Nachbau eines Ewer-Schiffes geleitet, wie es jahrhundertelang als Transportboot diente. Das Anbringen der selbstaufblasbaren Schwimmwesten sorgt für Erheiterung, aber schließlich haben wir es alle geschafft. Wir sind eine circa acht frau,- und mannstarke Mannschaft, plus ein Kind. Obwohl der Ewer traditionell gestakt, getreidelt oder gesegelt wird, hat unser Exemplar einen gar nicht mal so lauten Diesel in Gebrauch. Neben der Mannschaft gibt es einen Kapitän und einen Matrosen. Der Kapitän trägt Vollbart, der Matrose Mütze und Pferdeschwanz. In gemächlichem Tempo geht es los. Die Uferböschungen, samt ihren Anbauten, Stegen, Häuschen und Villen, samt einer Werft, einer Schleusenanlage, einer Autobahn und Sonnenbadenden gleiten an uns vorbei. Die Fahrt dauert ca. 1 Stunde, inklusive einer kurzen Liegezeit. Die wird benötigt, um die Ampel der Schleuse auf grün springen zu lassen.  Währenddessen werden wir verfolgt und von den Insassen – eine Runde aus vier Männern mit Sonnenbrillen – eines kleinen Sportbootes befragt. Sie wollen wissen, ob sie sich bei der anstehenden Schleusenfahrt zu uns gesellen dürfen und, wenn ja, in welcher Reihenfolge. Natürlich wollen sie zuerst, was unser Kapitän aber ablehnt. Die Schleuse füllt sich weitere 45 Zentimeter hoch mit Wasser, wie unser Käpt’n zu berichten weiß. Das geht schneller als erwartet.

„Drama“ mit Drachenboot

Als sich die Schleusentoore wieder öffnen befinden wir uns schon fast in Bergedorf, nur eine 2,5 Kilometer lange „Ewerautobahn“, an deren Rändern sich Neubausiedlungen emporheben, will noch abgefahren werden. Doch halt ! Kurz vor Einfahrt in das Hafenbecken betätigt unser Kapitän sein Nebelhorn. Ein dumpfer, durchdringender Klang hallt von den Häuserschluchten wider und wir stoppen die Fahrt. Kurz vor uns, in Sichtweite, starten zwei Drachenboote, voll mit Menschen, die um die Wette fahren. Denen wollen wir nicht in die Quere kommen. Als auch das geschafft ist werden wir von winkenden Leuten, Jahrmarktsmusik, Crêpe-Duft und großem Halli-Hallo empfangen, denn in Bergedorf ist Stadtfest. Rund um den Hafen sind Buden aufgebaut und der Jubel und Trubel gilt nicht unbedingt uns, obwohl die Einfahrt eines historischen Ewers durchaus Aufmerksamkeit und vielleicht auch ein bisschen Neid bei den Barkassen-Touristen hervorruft.

Mühle und Kirche

Nachdem unsere Truppe-Gruppe ausgestiegen ist (Achtung auf den Spalt zwischen Bordsteinkante und rettendem Ufer), versammeln wir uns neu. Wir verabschieden und bedanken uns bei unseren Schiffsführern und begrüßen unsere neue Führerin, die dritte und letzte auf unserer Reise, eine Historikerin. Sie ist in den Menschenansammlungen gut auszumachen, denn sie trägt ein knall-orangenes T-Shirt. Außerdem hat sie Informationsmaterial in den Händen, in welches wir gleich Einblick nehmen dürfen. Sie erzählt über Geschichte und Entwicklung von Bergedorf, seinem Reichtum in früheren Zeiten, der auch vom Betrieb einer großen Mühle im Ortskern herrührte. Die Bauern mussten, ob sie wollten oder nicht, ihr Korn dort mahlen. Dafür wurden Abgaben fällig. Die machten den Müller nicht gerade zu einem beliebten Menschen. Weiter geht es jetzt zur Bergedorfer Kirche, welche, wie innen unter anderem durch zahlreiche, aufgehängte Gemälde zu erkennen, den Eindruck des Reichtums verifiziert. Ausserdem haben sich die Bergedorfer den Luxus geleistet, ihren Kirchturm, nicht wie in diesen Zeiten und Orten üblich extern zu installieren, sondern „anzuheften“, ans Kirchenschiff.

Schluß im Schloß

Das Besondere nun am Bergedorfer Schloss ist sein Bestehen aus Backstein. Typische Renaissance-Giebel zieren die Südwest-Flanke, mit Blick auf den doppelten. Hier stand im Mittelalter noch eine ganz simpel konstruierte Burg, mit Wällen, Palisaden, Gräben und einem einzelnen Turm. Vor Erfindung des Backsteins konnte man – anders als in Süddeutschland – keine geschlossenen Schlösser bauen. Es gab nur wenige Feldsteine, Findlinge und natürlich jede Menge Holz, hier in Form des Sachsenwaldes quasi vor der Haustür. Der Holzbedarf reichte bis nach Lüneburg mit seiner gefräßigen Saline. Holz war das Öl des Mittelalters. Und es wurden auch schon Kriege um diesen Rohstoff geführt. Im Falle Bergedorfs war dies ein Krieg gegen die Übermacht von 4000 Söldnern, die, von den verbündeten Hansestädten Hamburg und Lübeck finanziert wurden, um sich mit Gewalt einen Zugang zu dem wertvollen Sachsenwald zu beschaffen. Erfolgreich, wie man leider konstatieren musste. Man bezichtigte die Bergedorfer des „Raubrittertums“, um einen Vorwand zu haben, sie zu überfallen.

Schlager und Folter

Da das Schloss wegen Renovierungsarbeiten im oberen Stockwerk nur teilweise zu besichtigen war, wird uns diese Historie während des Aufenthaltes in den Kellergewölben und Wehrgängen erzählt. Diese sind sehr niedrig, wie eine Beule an meinem Kopf berichtet. Nach kurzem Aufenthalt in einer Art „Waffenkammer“, gab es neben Spießen, Schwertern, Hellebarden, auch allerlei „Folterinstrumente“ zu besichtigen. Das versetzte das Gemüt unseres Gruppen-Kindes allerdings nicht in Angst und Schrecken, sondern eher in eine Art freudig-nervöser Aufregung. Anschließend gelangten wir durch einige halsbrecherische Treppenstufen wieder in den Eingangsbereich des Schlosses. Ein Bummel durch den Schlossgarten, der allerdings durch herumliegenden Müll und „Rummel“ einer Schlagerkapelle in seinem Vergnügen eingeschränkt wurde, rundet unseren touristischen Vormittag ab. Wir haben es sehr genossen und wir haben viel dabei gelernt. Und weitere Inspirationen erhalten darüber, was es quasi direkt vor unserer Haustür so alles zu entdecken gibt. Da ist noch viel mehr.

Ein Bahnhof mit Gleisen und Bergen im Hintergrund, sehr verloren

Von Mainz nach München – und zurück ?

Vorspann

Heute habe ich, für die Weiterreise, einen Eurocity gebucht. Ich habe ja noch meine Bahncard. Aus Kostengründen genehmige ich mir aber einen Super-Sparpreis. Das heißt Zugbindung. Das heißt: so früh am Mainzer Hauptbahnhof zu sein, dass ich den Zug in jedem Fall bekomme, also eine knappe Stunde vorher. Das heißt: einundhalb Stunden vor Abfahrt, weil der Zug natürlich 30 Minuten Verspätung hat. Das heißt Geld ausgeben: für Kaffee, für Zeitung, für ein Buch. Das heißt: die Ersparnis des Super-Sparpreises ist futsch. Erkenntnis: beim nächsten Mal lieber ein stornierbares Angebot wählen ! Der auf diese Art „erhöhte“ Preis ist in seinen Folgen aber durch die Tatsache abgemildert, dass ich von meiner Familie „Fahrgeld“ bekommen habe. Und zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass das Buch, welches ich bei „Replay“ erstanden habe, als Geschenk dienen wird. Vielleicht. Vielleicht lese ich es aber auch lieber selber. Es ist immerhin der neue „Strelecky“ mit dem schönen Titel: „Wenn Du Orangen willst, such nicht im Blaubeerfeld“. Übersetzt auf eine Reise mit der Bahn könnte man sagen:

Wenn Du nach Stuttgart willst, fahr nicht nach München

Also dieser zweite Teil der Reise verläuft dann in Folge ziemlich problemlos – zumindest für mich. So ist das. So kann das auch sein. Ich bin in einem Zug, dessen Hauptziel Klagenfurt ist. Er tuckert von EC-Bahnhof zu EC-Bahnhof. Es läuft problemlos – mit einer Einschränkung: Alle, die nach Stuttgart wollen, werden enttäuscht sein. Der Zug hält dort nicht. Das ist wohl die Lösung der „Reiseleitung“ in Sachen Pünktlichkeitsproblem, denn der Zug war schon mit ca. 30 Minuten Verspätung in Mainz angekommen. So wird ein bestimmter Bahnhof auf der Reise einfach mal nicht angefahren: Stuttgart. Die Leute könnten ja in Esslingen umsteigen. Das kommentiere ich hier jetzt einfach mal gar nicht. So. Ich bin in München, und hier gehen die Uhren eh anders. Also pünktlich. Und „sauber“. Obwohl ich Städte eigentlich nicht mag, die „Obdachlosigkeit“ zu einem „ästhetischen Problem“ machen, also aus dem Straßenbild zu verbannen versuchen. Wie neuerdings wohl auch die Stadt New York. Zum Glück gelingt es ihnen hier in der bayrischen Hauptstadt nicht ganz. Man sieht viele Menschen, die man früher wohl als „Originale“ bezeichnet hätte.

Rückfahrt mit Zwischenstopps

Die Rückfahrt geschieht zwei Tage später über Würzburg. Am Vorabend gebucht, kommt mir die Reise trotz Bahncard 25 recht teuer vor, ca. 44€. Und dann ist der Plan, in Würzburg über Schlüchtern, Bebra, Fulda mit Nahverkehrszügen zu fahren. Aber diesen Plan werfe ich, schon im Zug sitzend, über den Haufen. Ich warte zehn Minuten und dann steige ich aus, weil die Wahrscheinlichkeit, schon den ersten Anschluss zu bekommen, gen null tendiert. Offensichtlich hat es an der Böschung in Höhe Veitshöchtsheim einen Brand gegeben. Einen Böschungsbrand. Der sei zwar angeblich schon wieder gelöscht, aber „mit Verspätungen sei zu rechnen“. Sowohl die Anzeigentafel, als auch die Anzeige in der App suggerieren zwar Pünktlichkeit, aber die Realität ist eine andere. So steige ich wieder aus. Ich hatte mir schon auf der vorher gegangenen Fahrt überlegt in einem solchen Falle, so zu handeln, deswegen zögere ich jetzt nicht mehr. Ich drehe eine Runde durch Würzburg, nehme ein Falafelsandwich (Gute Idee!) und dann setze ich mich in den ICE nach zunächst Fulda. Von Fulda aus möchte ich einen zweiten Versuch starten, mit Nahverkehrszügen zu fahren, ich weiß allerdings nicht, ob es meine Abenteuerlust zulassen wird. Diese ist nämlich schon ziemlich gestillt. Der ICE in Würzburg ist nämlich ausgerechnet einer, der nicht nur nach Hamburg fährt, sondern sogar in Lüneburg hält. Und ich bin jemand, der Versuchungen selten widerstehen kann.

Einmal was Verbotenes tun !

Und ich konnte es nicht. Ich steige in Fulda aus dem Zug aus. Es regnet. Meine Vorstellung ist die: ich sitze im RE, ohne WLAN, der Regen prasselt an die Scheibe und nach dem schwülen Münchener Sommer fühlt sich das an wie ein Märchen der Brüder Grimm, aber eines der bösen. Ich steige im nächsten Wagon wieder in den ICE. Meine Bahn-app schlägt mir vor, doch das Ticket für 71,40€ zu kaufen, ich zögere kurz. Ich frage mich, welche Möglichkeiten es gibt, dem zu entkommen: Wenn ich auf meinem Platz bleibe ist die Wahrscheinlichkeit sofort kontrolliert zu werden, ziemlich hoch. Wenn ich dagegen ins Restaurant gehe, nur ein Wagon weiter, habe ich vielleicht die Chance, wenigstens eine weitere Haltestelle zu überspringen. Ich präpariere meine App so, dass ich, im Falle einer Fahrschein-Kontrolle, nur noch auf „jetzt kaufen“ drücken muss. Ich nehme mir vor, so lange nicht zu klicken, bis ein Schaffner oder eine Schaffnerin direkt auf mich zu kommen. Das könnte natürlich auch von rückwärts geschehen…und siehe da, ein Schaffner kommt aus der Kombüse des Restaurants. Wenn er jetzt in meine entgegengesetzte Richtung läuft, dann würde ich nicht klicken, dann würde ich es wenigstens bis Kassel-Wilhelmshöhe riskieren, kein Ticket zu haben. Leider kommt er aber in meine Richtung. Kurz bevor er auf meiner Höhe ist, erwarte ich seine Ansprache. Doch sie kommt nicht. Er geht einfach vorbei an mir. Zwischenzeitlich habe ich aber geklickt. Bah.

Bebra-Blues

Ich sitze also im Restaurant, habe gerade noch Kleingeld für einen Café Crema, 3,80€ – also einen kleinen Café Crema ! Der Kellner ist freundlich, ich brauche nicht gleich zu bezahlen. Schaue ihm in Folge aber zu, wie er verzweifelt versucht eine „Zwischeninventur“ zu machen. Denn er muss dokumentieren, ob einer seiner Kollegen nicht etwas hat mitgehen lassen. Willkommen in Deutschland. Er hat sich zu mir an den Tisch gesetzt. Er ist mir sympathisch. Trägt Freundschaftsarmbänder. Und er schimpft über das WLAN im Zug. Er muss es wissen. Er fährt jeden Tag. Wir fahren weiter bis Bebra. Ein Nicht-Ort im nordhessichen Niemandsland. Am Bahnhof macht unsere Fahrt wegen einer Baustelle einen Betriebshalt und ich frage mich in Folge, ob ich mit dem 49-Euro-Ticket nicht vielleicht sogar schneller zuhause gewesen wäre. Und ich wäre dabei auch über Bebra gefahren. Himmel! Ein Güterzug sei auf der Strecke liegen geblieben…und dann hätten wir noch Gegenverkehr. Na ja. Ganz so schlimm wurde es dann nicht. Nur 25 Minuten Verspätung, aus welcher im Verlauf der weiteren Reise aber 15 Minuten werden. Und ich kann die Zeit durch Schreiben nutzen. Zugfahren heißt: Zeit zum Schreiben haben.

Bild einer Dampflok im Bahnhof von Emden

Lüneburg-Mainz mit Nahverkehrszügen

Lüneburg-Uelzen-Hannover-Göttingen

Der erste Teil der Fahrt, mit dem Metronom nach Uelzen, verläuft problemlos. Bis auf die Tatsache, dass ich, weil ich Verspätungen und Zugausfälle einkalkuliere, ziemlich müde bin. Ich bin früh aufgestanden und schon um 07:24h losgefahren, dann mit dem Rad zum Bahnhof gefahren, mit recht viel Gepäck. Ich weiß nicht, was ich in München so brauchen werde. Nachdem ich mein Rad im Parkhaus der Radstation abgeliefert habe und eine Wochenkarte erstand, mache ich in der Bahnhofsbäckerei die Erfahrung, dass ich Rabatt auf meinen Cappuccino bekomme. Ich habe nämlich meinen Mehrwegbecher dabei und spare offensichtlich das Geld für das Verbundmaterial des sonst üblichen „Plastikbecher“. – In Uelzen hat der Zug Aufenthalt, planmäßig. In Hannover ist der Bahnhof sehr voll, viele Schulklassen sind unterwegs, machen so kurz vor den Ferien noch Klassenfahrt. Der Zug fährt mit 5 Minuten Verspätung ein, und hat bei Abfahrt zehn Minuten Verspätung. Ich ergattere im oberen Stockwerk einen schönen Sitzplatz. Allerdings bekomme ich einen Nachbarn. Ein Junge, etwa sechs bis acht, POC, mit großem Koffer, Handgepäck und einem Handy, auf welchem in ziemlicher Lautstärke „Bernd, das Brot“ läuft. Zunächst mag ich den Jungen. Dann, nach einiger Zeit, wird er ein bisschen aufdringlich, stupst mich ständig mit den Beinen an. Da ich gerade nicht so gut gelaunt bin, beschließe ich, mir einen neuen Platz zu suchen. Ich wuchte meinen Rucksack und mein Handgepäck über ihn und seine Koffer. Seiner Betreuerin ist meine Flucht unangenehm. Sie will mir ihren Platz anbieten, den ich aber höflich ablehne. Als ich mich an ihr vorbeidrängele, entschuldigt sie sich für den jungen Mann und sagt, dieser sei ein Autist. Sie machen einen Ausflug mit „besonderen Menschen“. Ein bisschen peinlich ist mir meine Flucht dann schon, aber, was willste machen. Seelen ruhe stellt sich nun mal besser mit körperlicher Ruhe ein.

Göttingen-Kassel

In Göttingen steige ich in den „Cantus“. Das ist eine Privatbahn, die zwischen Göttingen und Kassel verkehrt. Ich muss in den hinteren Zugteil einsteigen, weil der vordere Teil irgendwann abgekoppelt wird, um nach Eschwege zu fahren. Da will ich nicht hin. Als ich im Cantus sitze, bin ich plötzlich ganz happy: der zweite von vier Umstiegen hat auch funktioniert. Im hinteren Zugteil ist es leer, ich setze mich auf einen Vierersitz, mein Gepäck neben mir. Hier wäre auch Platz auf dem Gepäckband über mir, Platz für meinen nicht kleinen Rucksack. Das ist anders als im Metronom, dort ist das Gepäckband schmal. Klar, ist ja auch Doppelstock.Mir gegenüber sitzt eine Frau, die es sich auch bequem gemacht hat. Sie hat ihren Rucksack hochgewuchtet, und hat jetzt noch zwei Taschen. Die eine nimmt sie als Kopfstütze, es ist eine Art Seesack, und die andere klemmt sie sich unter den Arm, wie einen Teddybären. Sie versucht zu schlafen. Als der Schaffner kommt, um mich zum ersten Mal auf dieser Reise zu kontrollieren, sagt sie: Mist, sie wäre gerade eingenickt.

Kassel-Frankfurt

In Kassel bekomme ich dann, oh Wunder, den dritten von vier Anschlüssen, bin also auch pünktlich. Ich muss nur am Kopfbahnhof das Gleis wechseln. Ich wundere mich immer, dass Menschen bei solchen Umstiegen gleich in den Wagon einsteigen, der Ihnen am nächsten liegt, anstatt ein paar Wagons weiterzugehen. Im vorderen Zugteil sind die Wagons leer! Na ja, alle haben halt Schiss, dass der Zug ohne sie abfährt, selbst wenn noch Zeit sein sollte. Und es ist Zeit. – Kurz hinter Kassel dann die Überraschung. Es regnet, und der Himmel sieht so düster aus, dass man Angst haben könnte, es gibt wieder so ein Unwetter wie es letzte Woche in den Nachrichten zu beobachten war. Aber so weit kommt es nicht. Der Zug kommt langsam, aber gut voran. Die gut zwei Stunden bis Frankfurt verlaufen ohne Ereignisse. Witzigerweise ist die schöne Studentin, die in der Morgensonne schon mit im Zug nach Hannover glänzte, in Kassel auch wieder in meinen Wagon eingestiegen. Ich bin also offensichtlich nicht der Einzige, der diese 49€-Ticket-Veranstaltung nutzt. Ca. 10 Minuten nach dem wir in Kassel losfahren klingelt mein Handy und mein Onkel Wolfgang ist dran. Er will meiner Gattin zum Geburtstag gratulieren. Warum er dann mich anruft, bleibt mir schleierhaft, aber wir plaudern nett-da wir ja nicht so häufig miteinander sprechen. Es bewahrheitet sich also wieder einmal, dass ungewöhnliche Dinge geschehen, wenn man sich auf den Weg macht. Er stellt sogar in Aussicht, uns einmal in Lüneburg zu besuchen, was er mir in einem zweiten Telefonat, welches er unter einem Vorwand tätigt, dann gleich mit ankündigt. Wenn einer eine Reise tut…

Frankfurt-Mainz…mit WLAN (!)

In Frankfurt steht er schon, der Regionalexpress nach Koblenz, der auch von einem privaten Unternehmen betrieben wird. Er ist klimagekühlt, hat genügend freie Sitze und, zum ersten Mal auf dieser Reise, bekomme ich Gelegenheit für WLAN-Nutzung. Unglaublich. Denn ich war zwischenzeitlich schon genervt, weil ich vergessen hatte, dass es in den „normalen“ Zügen des DB-Regionalverkehrs in der Regel ohne diesen Service abgeht. Und auch, wenn mein Email-Check negativ verläuft, so hatte ich wenigstens die Chance dazu. – Ich komme gut in Mainz an. Ich habe gut acht Stunden gebraucht, und habe alle Anschlüsse bekommen. Trotzdem bin ich natürlich erschöpft. Aber die Bilanz ist positiv.

Eine Schnecke, die langsam über einen Schotterweg schlecht

Himbeeren mit Hindernissen

Heute Morgen gehe ich schon gleich, nachdem meine Frau zur Arbeit aufgebrochen ist, zu Edeka. Nicht, weil ich gerne den Wocheneinkauf machen möchte – das hat meine Frau schon letzte Woche erledigt, sondern, weil ich ein kleines Päckchen zur Poststelle bringe, welches eine Computermaus enthält. Ich mache neuerdings wieder ebay. Und da ich mir neulich eine neue, ergonomische Maus angeschafft habe (ich bin jetzt 57 und meine Schulter bringt mich um), bringe ich die alte zur Post, damit sie noch jemand anderem nützlich sein kann. So weit so gut. Es ist ein kleiner, feiner Spaziergang am Morgen, dicht an Bahngleisen entlang, durch saftiges Mai-Grün, den murmelnden Hasenburger Bach über eine Brücke überquerend, welche sich hölzern halbrund über das Wasser beugt (sehr poetisch, der Mai, gell?). Was ich außerdem bei Edeka brauche, das ist Grillanzünder, natürlich ökologisch. Den finde ich auch schnell bei EDEKA, man hat – es wird Sommer – die Grillutensilien gleich an der Kasse aufgebaut. Morgens um halb zehn, nach drei Feiertagen, da ist die Schlange an der Kasse natürlich lang. Schon beim Eintritt in den Supermarkt war mir aufgefallen, dass eine Reihe mit Einkaufswagen drohend vor sich herschiebender Hausfrauen (ja – es sind fast  alles immer noch  Frauen, die diese Arbeit erledigen), den Supermarkt fluteten, im Run auf die neuesten Angebote, scheinbar nicht nur die Inflation bekämpfend. Die ersten dieser Damen hatten sich also schon vor der Kasse eingefunden. Und ich, mit meinem Grillanzünder in der Hand, bemerke, dass noch ein zweiter Mensch an einer anderen Kasse sitzt, deren Nummer allerdings nicht grün aufblinkt, zu früh gefreut, die Kasse wird wohl repariert.

Versuchungen am Grabbeltisch

Also warten. Und auf den Grabbeltisch schauen. Und ins Zeitschriftenregal dahinter. Und die „11 Freunde“, diese Fan-Fussballzeitschrift entdecken. Diese herausziehen. Und bevor ich sie wegen kleinen Wochenbudgets wieder hereinstecken möchte, mit der Zeitschrift in der Hand in die Schlange zurückhechten, weil sonst, oh weh, mein Einkauswagenplatz, der mühsam erkämpfte, in der Schlange futsch wäre. .Also weiter warten. Mit Grillanzünder und Zeitschrift in der Hand. Mich umblicken und beobachten. Den Mann mit der ungewöhnlichen Physiognomie, der die Kasse bedient, beobachten. Dieser hat einen schwierigen Montagmorgen, obwohl es eigentlich schon Dienstag ist. Montag war Feiertag. Tag der Arbeit. Ich werde nie verstehen, warum ausgerechnet am „Tag der Arbeit“ nie gearbeitet wird, aber das ist ein anderes Thema. Der Mann mit der seltsamen Physiognomie an der Kasse hat einen schlechten Start. Er muss die in Plastik verpackten Himbeeren (wohlgemerkt, wir haben Mai!) über die Kasse ziehen und der scan-Code funktioniert nicht. Nicht nur einmal nicht – dreimal. Er muss dreimal hintereinander, von drei verschiedenen Himbeerpackungen, den scan-Code händisch eingeben. Die Frau mit den weißen Turnschuhen, nackten Knöcheln, Jogging-Hose und Gucci-Tasche, schaut schon ganz ungeduldig. Möglicherweise parkt ihr SUV im Halteverbot, wer weiß. Doch damit nicht genug. Die Frau hat auch mehrere Avocados ausgesucht und will sie nun käuflich erwerben. Als „unser Mann hinter der Kasse“ diese nun über den Scanner zieht, leuchtet auf seinem Bildschirm ein rotes Warndreieck auf. Dieses trägt ein weißes Ausrufezeichen. Ganz offensichtlich funktioniert hier der Barcode auch nicht und unser Mann an der Kasse muss nachschauen.

Eine Welt, die wir geschaffen haben

So ein Elend. Das ist fürchterlich, denke ich: Ein Supergau für unseren kleinwüchsigen Kassenhelden: erst die drei Himbeerpackungen, jetzt auch noch zwei Avocados, deren Preis er nachschauen muss, in diesen Listen, die an Tafeln hängen, und alles dann händisch eingeben. Dieser Mann hat einen festen Job. Er arbeitet schon lange bei Edeka. Offensichtlich wohnt er in der Nähe, denn ich begegne ihm manchmal auf dem Weg zur Arbeit. Er hat einen festen Job, geregelte Arbeitszeiten, Tarifurlaub, Weihnachtsgeld. Aber er muss lange Zahlenkolonnen händisch in eine Computertastatur eingeben, mit einer Engelsgeduld. Weil Menschen Fließbänder erfinden, damit alles schneller geht, um Zeit zu sparen, weil ja der SUV im Halteverbot parkt. Dieser Mann hinter der Kasse, der muss offensichtlich seinen Job sehr lieben, denn er bleibt völlig ruhig, während ich mich sehr, sehr wundere über die Welt, die wir geschaffen haben. Eine Welt mit Plastikhimbeeren, Scannerkassen, weißen Turnschuhen, die völlig unpraktisch sind und SUV, die zu groß sind, um auf regulären Parkplätzen zu stehen.

Okay, ich gebe es zu: dass die Turnschuh-Frau einen SUV fährt, der auch noch im Halteverbot stehen soll, dass ist wohlmöglich einfach nur eine Projektion von mir. Aber es hätte zu meinem an diesem Morgen sehr bröckeligen Weltbild gepasst.

Ein Kürbiskernbrötchen mit seltsamer Form

Privater Klimaschutz

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Eigentlich wollte ich heute morgen nur mal eben zum Brötchen holen. Mit dem Auto am liebsten. Nicht weit genug, eigentlich. Aber mit dem Fahrrad, bei diesen Temperaturen, und dem Wind. Das Fahrrad habe ich mir 2019 noch gekauft. Mein Altes war eigentlich noch gut, aber nicht mehr ganz sicher, hat der Mann in der Radstation gesagt. Also habe ich es verschenkt. Ich hatte ja noch das andere Rad, welches ich von meinem Vater erbte. Also habe ich mir ein Neues gekauft. Kurz bevor das mit der Krise losging. Eigentlich war auch das Ritzel hinten noch ganz gut, aber vorsichtshalber sollte man es austauschen, hat ein anderer Mann bei der Inspektion gesagt. So bin ich – nach einem Jahr – wieder bei dem Preis gelandet, den das Fahrrad eigentlich gekostet hätte, wäre es nicht „ein Schnäppchen“ gewesen.

Elektronik

Genau wie meine Wetterjacke. Als hätte ich es geahnt. Eigentlich ist „outdoor“ ja ganz gut, aber die Jacke selbst ist bestimmt weder fair noch klimafreundlich produziert. Ich trage sie trotzdem. Soll ja jeder sehen, dass ich ein Naturverbundener bin. Eigentlich war ich das immer. Ich habe von Anfang an „grün“ gewählt. Seit ich wählen durfte. Okay, damit habe ich auch die Bundeswehreinsätze in Ex-Jugoslawien mit verantwortet. Aber das ist eigentlich ein ganz anderes Thema. In den letzten Jahren hat man mein „Grün-Sein“ nicht so gemerkt. Ich wollte eigentlich nur meinen Job machen und zwar regelmäßig. Ich bin im Kunstbereich tätig. Ich bin im Hamsterrad. Weil ich nämlich in einem „Überschussberuf“ arbeite. Das heißt: zuviele Menschen wollen im Kunstbereich tätig sein. Da muss man sich anstrengen. Dass man mithält. Vor allem, dass man immer erreichbar ist. 1999 hatte ich mein erstes Handy. Dann noch eines. Mittlerweile habe ich mein viertes smartphone – seit 2010. Die Dinger werden halt immer besser. Können mehr von Jahr zu Jahr. Als ich angefangen habe, haben meine Kommilitonen und ich darüber gestritten, ob man seine Seele verkauft, wenn man sich einen analogen Anrufbeantworter anschafft. Allen Ernstes. Das Gleiche dann nochmal zum Thema „Fax“. Ich hatte alles: erst einen AB, dan ein Fax, dann Laptop und Drucker. Jetzt brauche ich eigentlich keinen Drucker mehr. Es wird immer weniger nötig, etwas auszudrucken. Aber ich habe das Ding nun mal.

Eiertanz

Eigentlich wollte ich mal was: die Welt verändern. Das war so 1982. Da war ich einer der Ersten, die sich „biologische Schuhe“ gekauft haben, wo die Zehen vorne so Platz hatten. Entgegen dem Zeitgeist: „New Wave“ verlangte spitze Schuhe. Die hatte ich eigentlich auch. „Creepers“ aus England. Mit dicker Kreppsohle: Eigentlich brauche ich nicht so viele Schuhe. Aber seit den Achtzigern liebe ich es, eine Auswahl zu haben. Je nach Laune (“ I just drive a different car everyday – depending on how I feel“ – ach ja, Tom Waits). Damals war es äußerst wichtig die richtigen Schuhe zu tragen. Damit zeigte man Gesinnung. Und weil man in den 80ern Hedonist und ein Opfer der Popkultur war, änderte die sich alle zwei, drei Jahre. Erst Hippie, dann Punk, dann New Wave. Dann Rock-a-billy. Alle hatten ihre Schuhe. Zunächst war ich in der Kirche engagiert. Wir sind jedes Jahr ins Zeltlager gefahren. Eigentlich hätte es gereicht, dass ich mit den Eltern unterwegs war: Mit dem VW-Käfer ins europäische Ausland. Aber ich musste dann noch alleine. Nach Frankreich. Mit dem Auto. Diesmal mein eigener Kadett. Einmal, zweimal, dreimal. Später mit dem Corsa. Eigentlich habe ich Flugangst. Aber ich habe sie überwunden. Für ein „Peacecamp“ in New York, so eine Art Friedenseinsatz. Eigentlich hätte mir New York als Amerika-Kennenlernen gereicht, aber ich wollte nochmal nach Kalifornien. Da kommt man nur mit dem Flugzeug hin. Meine jetzige Frau und ich, wir hatten anfangs weniger Geld und kannten uns nicht so gut. Also entschieden wir uns für eine Pauschalreise – mit dem Flieger nach Mallorca. Später nochmal nach Santurin. Griechische Insel. Eigentlich ganz schön da. Ich bin dann lange nicht geflogen. Eigentlich kommt man nach England auch mit der Bahn. Durch den Eurotunnel. Aber ich hatte nur 5 Tage Zeit, meinen Bruder zu besuchen. Da habe ich den Flieger genommen. Nicht direkt. Über Düsseldorf. Da wäre ich notfalls ausgestiegen. Denn eigentlich habe ich ja Flugangst. Im Grunde geht es mir sehr gut. Ich arbeite regelmäßig im Kunstbetrieb. Ich kann zweimal im Jahr in den Urlaub fahren. Eigentlich will ich schon seit Jahren nach Österreich. Aber es wird doch meistens Italien. Eigentlich kommt man da ganz gut mit der Bahn hin: Nachtzug München – Rom. Aber es ist halt weit. So sind wir mehrmals geflogen. Einmal auch mit dem Auto gefahren.

Brötchen holen

Tja – eigentlich wollte ich nur Brötchen holen. Es ist nicht weit, vielleicht zwei Kilometer. Heute Morgen habe ich das Fahrrad genommen. Es hat leicht genieselt. Ich habe sogar einen kleinen Rucksack für die Brötchen dabei. Eigentlich esse ich lieber Bio-Brötchen, aber die Weißen schmecken beim normalen Bäcker einfach besser. Ich nehme also das Rad: leichter Gegenwind, ich bin müde, aber ich kann es mir selber als Frühsport verkaufen. Am Schluss der Strecke geht es leicht, aber stetig bergauf. Eigentlich kein steiler Berg, aber der zieht sich. Ich biege endlich um die Ecke, hinter welcher gleich das Ladenschild erscheint. Ich bin stolz auf mich: „Jede Menge CO2 gespart, heute“. Und da stehen sie alle: die SUV`s. Die Kombis und Jeeps der Nachbarn. Auf dem Bäcker-Parkplatz. Eigentlich wollen sie alle nur mal eben Brötchen holen, denke ich.

Prenzlauer Berg

letztes Jahr im Mai

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Letztes Jahr weilte ich in Berlin. An einem schwülen Nachmittag war die Atmosphäre beinahe vor dem überkochen. Kurz vor einem Starkregenschauer mit Blitz und Donner bricht auf der Strasse Hektik aus. Schlüpfe ich jetzt schnell in diese Boutique und kaufe mir aus Verlegenheit… sagen wir, dieses bunte Hemd da ? Was soll ich tun ? Ich brauche Unterschlupf ! Ach egal, ich lass mich naßregnen. Auf nach Hause, zu Fuß !

Wohin geht die Fahrt ?

Eisenbahnschienen im Hasenburger Bachtal...
Oben wird es schon wieder luftiger !
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In der Nachbarschaft, am Hasenburger Weg, entdecke ich den Himmel durch die Schienen der Kleinbahn. Und denke: Alles geht vorüber, auch Corona.