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Meine 85-jährige Patentante Edith ist seit Wochen im Lockdown. Trotz stabiler Gesundheit, geistig wie körperlich, leidet sie als Single natürlich gelegentlich unter der Isolation. Da es mir als freischaffendem Schauspieler gerade ähnlich geht, beschloss ich sie, im April und Mai diesen Jahres, des öfteren mal anzurufen. Das ist auch alles gut, und es war schön ihre Stimme zu hören. Eine Stimme, die natürlich seit Kindheitstagen vertraut ist, und damit einen Rest an Stabilität, oder “alles wie immer” vermittelt.
Das nicht “alles wie immer ” ist, merke ich hauptsächlich dadurch, dass sie gar nicht mehr aufhören kann zu reden, die Gespräche also etwas einseitig verlaufen. Man muss zwei Dinge über meine Tante Edith wissen. Erstens war sie, die Jahrzehnte lang Grundschullehrerin war, wie gesagt, geistig immer fit. Und zweitens war sie 45 Jahre lang eine begeisterte Reiterin, sogar mit eigenem Pferd.
Jetzt ist sie ja schon lange keine Lehrerin mehr, und auch mit dem Reiten ist es seit einem Fahrradunfall vor vier Jahren vorbei, von heute auf morgen. Das mit dem Fahrradunfall ist ja auch so eine Sache. Da reitet ein Mensch jahrzehntelang auf einem Pferd, drinnen & draußen, jeden Tag, immer wieder und nichts passiert. Dann steigt die alte Dame einmal auf ein Fahrrad und verunfallt so schwer, dass ihr ein Stück des Innenohrknochens abbricht und seitdem frei herumschwebt. Nachdem schon alle dachten, sie würde dement werden, hat sie sich von den anfänglichen Wortfindungsschwierigkeiten erholt. Was blieb war eine ziemlich dolle Schwerhörigkeit auf dem betreffenden Ohr. Mittlerweile denke ich allerdings, die Demenz ist zurückgekehrt – aber das ist eine andere Geschichte.
Stimmgerät
Als ich Edith vor einem halben Jahr zum 80.Geburtstag meiner Mutter wiedertraf, erzählte sie mir von ihrem dritten Hobby, nämlich der Musik. Zeit Lebens spielt sie nämlich schon Gitarre – klassische Gitarre. Was ich in meiner frühen Adoleszens zwar uncool fand, mich aber doch beeindruckte und auch beeinflusste, denn sonst gab es ja kaum Kreative in meiner Familie. Man kann sich vorstellen, dass Gitarre spielen schwierig wird, wenn man auf einem Ohr fast taub ist. Noch schlimmer sei, so Edith an diesem Geburtstagsnachmittag, nur das Stimmen der Gitarre. Das sei nämlich fast unmöglich geworden. Meinem lieben Bruder Michael und mir entfuhr es fast gleichzeitig, dass es dafür mittlerweile ja elektronische Stimmgeräte gäbe. Ein prima Weihnachtsgeschenk, dachten wir beide wohlmöglich auch gleichzeitig.
Natürlich war ich es, der dieses Geschenk dann machte.
Im Frühjahr dann also der erste Anruf: “Du, Edith, wie geht es ? Undsoweiter. “Bist du mit dem Stimmgerät klar gekommen ?” Es stellt sich heraus, dass es einen Nachbarn gibt, der ihr öfter mal kleine Gefälligkeiten erweist. Und so auch diesmal. Es ging um das Einlegen der Knopfzelle, “aber ja, sie käme damit prima klar”, “nach allem, was sie beurteilen kann”, sei die Gitarre jetzt wieder stimmfähig, und auch schon gestimmt und sie könne endlich wieder spielen. Bingo !
Stufe 2
Nachdem also die erste Stufe des “wir-bringen-Patentante-in-Schwung”-Projektes gelungen war, wurde ich mutiger. Ich bin ja auch nicht ganz uneigennützig. Es ist nämlich so, dass ich selber Gitarre spiele und selbstgeschriebene Lieder zum Besten gebe. Nur gefühlt “weiß das kaum einer”. Nicht mal die engsten Familiemitglieder, also auch meine Tante Edith, sind sich dieses meines Hobbies bewusst. Das muss sich ändern. Ich muss dafür sorgen, dass meine Tante Edith von meiner Musik erfährt, und mich bewundert. Ich möchte gerne für meine Musik bewundert werden, und sei es von meiner 85-jährigen, halbtauben Patentante.
Zum Glück bin ich in Besitz einer homerecording-Einheit. Ich kann also, ganz einfach und halb-professionell, CDs mit meiner Musik herstellen und, z.Bsp. an Patentanten verschicken. Theoretisch. Jetzt ist es ja so, dass während des Lockdowns ältere Mitbürger angehalten sind, sich auf ihre “alten Tage hin” nochmal ganz doll mit Computer und so zu beschäftigen, damit sie nicht so vereinsamen. Ist im Prinzip auch eine gute Idee. Wenn es denn funktioniert. Hätte meine Tante Edith schon skype, dann hätte ich ihr ganz sicher gut erklären können, wo sich der Knopf für das Öffnen des Computer-Laufwerkes zum Abspielen meiner Musik-CD befindet. Ganz zu schweigen vom Auswahlschalter ihres Hifi-Verstärkers, um ihren CD-Player in Schwung zu bringen – das wäre die zweite Möglichkeit, meine CD abzuspielen.
So, wie es jetzt ist, klappt es ganz und gar nicht: Sie liefert mir am Festnetztelefon in übersteuerter Lautstärke eine Komplettbeschreibung ihres Laptops, allerdings ohne eine einzige Information zur Lösung unseres Problems. Ich halte den kabellosen Hörer sehr weit weg von meinem Ohr. Ich möchte vermeiden , dass sich bei mir nicht auch noch ein Hörknöchelchen löst, und verfluche dabei innerlich lautstark nicht nur das Virus, sondern auch ihren CD-Player. Meine Herren, warum kaufen sich die alten Leutchen denn diese ganzen Geräte, wenn sie sie dann nicht benutzen ?
Jetzt, einen Monat später, ist das Thema noch immer nicht erledigt. Zumindest höre ich nichts mehr von ihr. Das liegt nicht etwa daran, dass ich jetzt auch auf einem Ohr taub geworden bin, sondern, dass ich keine Lust mehr habe, anzurufen. Also irgend wie “Alles wie immer”.