Text auf Bild: Andra Tutto Bene

Werden Sie gesund !

“werden sie gesund” hören
lesen:

Überall hört man jetzt diesen Satz, meist zum Abschied, auch im Telefonat oder in der Email: Bleiben Sie gesund ! Ich frage mich, was das heißt: bleiben Sie gesund ! Was meint die Person, die mir diese Wünsche hinterher schickt ? Gibt es einen Zweifel ? Gibt es einen Zweifel an meiner gegenwärtigen oder zukünftigen Gesundheit ? Kennt mich mein Nachbar, meine Nachbarin, meine Marktverkäufer:in, der Steuerberater, oder die Zahnärztin so gut, dass sie meint, ich – mein Zustand – könnte aus dem Gleichgewicht sein, so dass ich eventuell anfällig für eine Infektion, einen Unfall oder eine genetische Krankheit sei ? Ich, der ich doch ganz gesund aussehe ? Der mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht. Inmitten wankender Menschen, die nicht ein, noch aus zu wissen scheinen vor lauter Sorge. Oder will mein Gegenüber – entgegen sonstiger, hochgetakteter Floskelhaftigkeit, etwa ernsthaft einen guten Wunsch an mich richten ? Mit quasi allgemeiner, menschlicher, einladender Geste ? Einer Geste des guten Willens, der guten Nachbarschaft ? Meint der Nächst-Mensch es am Ende sogar gut mit mir ? Will mein Bestes ? Ist freundlich, gar: respektvoll ?Respekt.

Respekt

Ha, Respekt ! Das ist überhaupt so etwas. Wo ist der geblieben ? Erleben wir jetzt die Wiedereinführung einer ehemals allgemeingültigen Kulturform ? Zwar noch etwas zaghaft, denn Respekt heißt jetzt erst einmal, etwas militärisch, Abstand. Sogar eineinhalb Meter Abstand, bei sehr respektvollen Menschen sogar “zwei Meter Abstand”. Ich bin dafür in Zukunft aus “eineinhalb Meter Abstand” “eineinhalb Meter Respekt” zu machen. Ich hätte gerne “eineinhalb Meter reinen Respekt” könnte man den Marktverkäufer:innen über die Ladentheke hinweg zurufen. Das Virus sorgt für große Lücken in unseren Reihen, aber es hat es bislang nicht geschafft, die Rüpelhaftigkeit auszurotten. Interessant. Ständig rennt mir zum Beispiel jemand in meine – jetzt auch staatlich verordnete – Aura hinein. Ich will schon in Altnormalzeiten immer in die Menge brüllen: “Sie Auraverletzer, Sie!”. Die Ellenbogenmentalität wird nur durch schlechte Ausatmungskultur ersetzt, der SUV quasi durch den kleinstmöglichen Einkaufswagen. Was früher blaue Flecken waren, sind heute potentielle Ansteckungsgefahren, eingeatmetes Mettbrötchen, sozusagen.

Im Freien

Ihr respektlosen, auraverletzenden Mettbrötchen-Ausatmer:innen ! Oft wird man ja auch beim Joggen von hinten angehustet. Das war auch schon früher nicht toll. Aber was heißt hier “früher”? Vor Corona ? Waren eigentlich vor Corona die Leute gesünder als jetzt ? Das wage ich zu bezweifeln. Ich stelle sogar die steile These auf, dass wir es jetzt alle sind: Wir sind viel an der frischen Luft, bewegen uns, und nach überstandener “heißer Phase” werden wir den Wert von Berührungen, Familie, Live-Erlebnissen und Stammkneipen völlig neu zu schätzen wissen. Auch den Wert von Demokratie und einer funktionierenden Verwaltung, by the way. Was heißt also: bleiben sie gesund ? Ich würde viel lieber sagen: werden Sie noch gesünder !

Wos hoast dös jetzt für mi ?

“Wos hoast das denn jetzt für mi ?”, um es mal einfach auf wienerisch zu fragen ?! Dös hoast, dass ich jetzt eine völlig neue Lebensweise einübe. Die für das 21.Jahrhundert, endlich. Was hoast dös für die “ältere Generation” ? Die ältere Generation ist ja eine schweigende, und sie hat es nicht lernen dürfen über Gefühle zu sprechen. In der jetzigen Isolation spürt sie vielleicht wie gut es wäre, überhaupt reden zu können, mit irgendjemandem, über irgendetwas. Vielleicht lernt die Kriegskindergeneration, dass sie auch einfach mal reden muss, reden darf, reden sollte. Und meine Generation ? Die der Mitte 50-Jährigen ? Die Generation der Kriegsenkel. Was lernen wir ? Zum Beispiel, dass wir uns auch mal ausruhen dürfen, dass wir entfliehen können, für 5 Minuten, dem Rattenrennen, dem ewigen Hamsterrad. Müssen auch nicht immer den Clown geben, den Unterhalter. Wir können kurz innehalten, traumatisierte Weltkriegsüberlebende zu bespassen. Wir dürfen nachdenken, was wir wirklich brauchen, was uns wirklich etwas wert ist, zum Beispiel unsere Familien – und nicht nur der neueste Sportwagen vor der Tür.

Martin im Alltag
Mann in Lüneburg

Der Schrei.

Was machen wir also mit unseren Gefühlen, die jetzt hochkommen ? All diejenigen Gefühle, die im Alltag des nie enden wollenden Turbokapitalismus keinen Platz finden dürfen ? Wir drücken sie aus ! Wir lassen sie heraus ! Als Schrei, als Tanz, als Kunstwerk, als Musikstück, als Sandburg, als Bild, als Text, als Kraftsport, als Wutausdruck, als Abstandsregel ! Wir nehmen Abstand von unseren Alltagsgewohnheiten, treten einen Schritt zurück hinter die eingefahrenen Regeln. Und nehmen eine neue Perspektive ein: auf einer Treppenstufe sitzend, anstatt auf einem Restaurantstuhl, auf dem Fahrrad, statt dem Auto, am Telefon mit einem Verwandten sprechend, anstatt allein am PC. Wir durchbrechen kollektiv den Grauschleier, die uns umgebende Watte, die so vielleicht zum letzten Mal kurz vor dem Mauerfall in Deutschland zu spüren war. Wir fassen uns an den Händen und schreien gemeinsam, ganz laut, entgegen jeder Angst, jeder Verzweiflung, jeder Verwirrung, in Erwartung eines neuen, noch schöneren, noch friedlicheren, ökologischeren, menschlicheren Lebens: werden Sie gesund !