Ein Kürbiskernbrötchen mit seltsamer Form

Corona oder Flaute ?

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Corona oder nicht gefragt-Podcast-Beitrag
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Hallo ! Das kennt doch jeder und jede Schauspieler*in: da sitzt man zu Hause und das Telefon klingelt…nicht. In den ersten Wochen des Lock-Downs kam mir das auch noch irgendwie normal vor. Ist ja klar: da wird gar nicht gedreht, die Theater, die Sommerfestspiele, alle machen: nichts. Dürfen nichts machen.

In der Schwebe

Jetzt, nachdem ich mich halbwegs an diesen seltsamen Schwebe-Zustand gewöhnt habe, nicht mehr ausgehe, auch sonst ziemlich viel herumhänge, also quasi auf Steuerzahlerkosten, denn ich beziehe Kurzarbeitergeld. Halt ! Stop ! Kurzarbeitergeld ? Ja, die Theater zahlen neuerdings auch Kurzarbeitergeld. Ist das nicht irre ? Während ich da also so Kurzarbeitergeld beziehe und spare, da ich zu wenig Gelegenheit habe, es auszugeben, da stelle ich fest, dass das Telefon noch immer nicht klingelt. Also, nur um das klar zu stellen: Ich habe kein schlechtes Gewissen wegen des Kurzarbeitergeldes, nur ein bisschen. Aber bin ich nicht schließlich auch Steuerzahler ? Außerdem, so wie mir geht es vermutlich Tausenden gerade, wahrscheinlich sogar Millionen. Alle bekommen Kurzarbeitergeld. Da kann man auch mal danke sagen. Aber es ist so still hier…

War ich gut ?

Aber so langsam fange ich schon an, mir wieder die alten Fragen zu stellen. Es ist ja schließlich so: Es gibt ja dennoch die, die drehen. Die, die arbeiten. Trotz Corona. Also die, die auf facebook oder noch mehr auf instagram posten: hashtag #Dreharbeiten, oder so. Und man fragt sich: wie schaffen die das ? Was läuft da anders ? Liegt es vielleicht doch an mir ? Und das ist die vermutlich tödlichste Frage, die man sich als Schauspieler*in stellen kann. Noch tödlicher als: war ich gut ? “Liegt es an mir ?” hat das Potential zur Selbstvernichtung. Denn meistens liegt esnicht an mir. Es geht nämlich eher um die drei üblichen Verdächtigen: Glück, Zufall und: zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, was ungefähr das gleiche ist wie Glück und Zufall. Natürlich muss man vorher seine Hausaufgaben gemacht haben. Also z.B. die Datenbanken mit seinen Profilen und guten Fotos gefüttert haben. Und dann sollte man sich natürlich auch bewerben und an Vorsprechen und Castings teilnehmen. “Liegt es an mir” lähmt.

Ein Jahr (es geht voran)

Also mittlerweile, es ist vier oder mehr Wochen später, hat das Telefon geklingelt. Ich bin angerufen worden. Besser gesagt, ich habe eine e-mail bekommen, denn wer telefoniert denn noch (nicht mal auf dieses Klischee ist noch Verlaß) ? Aber egal ob Telefon oder Mail: ich habe einen Job. Ich habe einen Job !! Ich kann es nicht fassen. Dennoch beginnen hier die Hindernisse erst recht. Kann ich einen Job annehmen, obwohl ich bei einem anderen Arbeitgeber Kurzarbeitergeld beziehe ? Und wenn ja, wird mir die Gage auf das Kurzarbeitergeld angerechnet ? Und wie arbeitet man unter Coronabedingungen an einem Filmset ? Geht das überhaupt. Die Antwort ist: es geht. Mit Quarantäne im Vorfeld, Abschottung während des Drehs und ständigem testen lassen müssen. Jeder Drehtag beginnt mit einem PCR-Test ! Das waren noch Zeiten.

Making Off

links im Bild: Salar Alyani
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Bild von dem Videokünstler, Fotografen und Filmemacher Salar Alyani (links). Er erarbeitet im Dezember 2019 auch mein about-me -Video. Und hier führt er auch Regie: Die Kollegin Britta Focht ist hier nur sehr stark angeschnitten rechts im Bild. Das Bild beschreibt eine Making-off-Szene eines Kurzfilmdrehs in Lüneburg. Februar 2019. Das Projekt konnte bislang nicht fertig gestellt werden. Sowas kann natürlich auch passieren.

Text auf Bild: Andra Tutto Bene

Werden Sie gesund !

“werden sie gesund” hören
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Überall hört man jetzt diesen Satz, meist zum Abschied, auch im Telefonat oder in der Email: Bleiben Sie gesund ! Ich frage mich, was das heißt: bleiben Sie gesund ! Was meint die Person, die mir diese Wünsche hinterher schickt ? Gibt es einen Zweifel ? Gibt es einen Zweifel an meiner gegenwärtigen oder zukünftigen Gesundheit ? Kennt mich mein Nachbar, meine Nachbarin, meine Marktverkäufer:in, der Steuerberater, oder die Zahnärztin so gut, dass sie meint, ich – mein Zustand – könnte aus dem Gleichgewicht sein, so dass ich eventuell anfällig für eine Infektion, einen Unfall oder eine genetische Krankheit sei ? Ich, der ich doch ganz gesund aussehe ? Der mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht. Inmitten wankender Menschen, die nicht ein, noch aus zu wissen scheinen vor lauter Sorge. Oder will mein Gegenüber – entgegen sonstiger, hochgetakteter Floskelhaftigkeit, etwa ernsthaft einen guten Wunsch an mich richten ? Mit quasi allgemeiner, menschlicher, einladender Geste ? Einer Geste des guten Willens, der guten Nachbarschaft ? Meint der Nächst-Mensch es am Ende sogar gut mit mir ? Will mein Bestes ? Ist freundlich, gar: respektvoll ?Respekt.

Respekt

Ha, Respekt ! Das ist überhaupt so etwas. Wo ist der geblieben ? Erleben wir jetzt die Wiedereinführung einer ehemals allgemeingültigen Kulturform ? Zwar noch etwas zaghaft, denn Respekt heißt jetzt erst einmal, etwas militärisch, Abstand. Sogar eineinhalb Meter Abstand, bei sehr respektvollen Menschen sogar “zwei Meter Abstand”. Ich bin dafür in Zukunft aus “eineinhalb Meter Abstand” “eineinhalb Meter Respekt” zu machen. Ich hätte gerne “eineinhalb Meter reinen Respekt” könnte man den Marktverkäufer:innen über die Ladentheke hinweg zurufen. Das Virus sorgt für große Lücken in unseren Reihen, aber es hat es bislang nicht geschafft, die Rüpelhaftigkeit auszurotten. Interessant. Ständig rennt mir zum Beispiel jemand in meine – jetzt auch staatlich verordnete – Aura hinein. Ich will schon in Altnormalzeiten immer in die Menge brüllen: “Sie Auraverletzer, Sie!”. Die Ellenbogenmentalität wird nur durch schlechte Ausatmungskultur ersetzt, der SUV quasi durch den kleinstmöglichen Einkaufswagen. Was früher blaue Flecken waren, sind heute potentielle Ansteckungsgefahren, eingeatmetes Mettbrötchen, sozusagen.

Im Freien

Ihr respektlosen, auraverletzenden Mettbrötchen-Ausatmer:innen ! Oft wird man ja auch beim Joggen von hinten angehustet. Das war auch schon früher nicht toll. Aber was heißt hier “früher”? Vor Corona ? Waren eigentlich vor Corona die Leute gesünder als jetzt ? Das wage ich zu bezweifeln. Ich stelle sogar die steile These auf, dass wir es jetzt alle sind: Wir sind viel an der frischen Luft, bewegen uns, und nach überstandener “heißer Phase” werden wir den Wert von Berührungen, Familie, Live-Erlebnissen und Stammkneipen völlig neu zu schätzen wissen. Auch den Wert von Demokratie und einer funktionierenden Verwaltung, by the way. Was heißt also: bleiben sie gesund ? Ich würde viel lieber sagen: werden Sie noch gesünder !

Wos hoast dös jetzt für mi ?

“Wos hoast das denn jetzt für mi ?”, um es mal einfach auf wienerisch zu fragen ?! Dös hoast, dass ich jetzt eine völlig neue Lebensweise einübe. Die für das 21.Jahrhundert, endlich. Was hoast dös für die “ältere Generation” ? Die ältere Generation ist ja eine schweigende, und sie hat es nicht lernen dürfen über Gefühle zu sprechen. In der jetzigen Isolation spürt sie vielleicht wie gut es wäre, überhaupt reden zu können, mit irgendjemandem, über irgendetwas. Vielleicht lernt die Kriegskindergeneration, dass sie auch einfach mal reden muss, reden darf, reden sollte. Und meine Generation ? Die der Mitte 50-Jährigen ? Die Generation der Kriegsenkel. Was lernen wir ? Zum Beispiel, dass wir uns auch mal ausruhen dürfen, dass wir entfliehen können, für 5 Minuten, dem Rattenrennen, dem ewigen Hamsterrad. Müssen auch nicht immer den Clown geben, den Unterhalter. Wir können kurz innehalten, traumatisierte Weltkriegsüberlebende zu bespassen. Wir dürfen nachdenken, was wir wirklich brauchen, was uns wirklich etwas wert ist, zum Beispiel unsere Familien – und nicht nur der neueste Sportwagen vor der Tür.

Martin im Alltag
Mann in Lüneburg

Der Schrei.

Was machen wir also mit unseren Gefühlen, die jetzt hochkommen ? All diejenigen Gefühle, die im Alltag des nie enden wollenden Turbokapitalismus keinen Platz finden dürfen ? Wir drücken sie aus ! Wir lassen sie heraus ! Als Schrei, als Tanz, als Kunstwerk, als Musikstück, als Sandburg, als Bild, als Text, als Kraftsport, als Wutausdruck, als Abstandsregel ! Wir nehmen Abstand von unseren Alltagsgewohnheiten, treten einen Schritt zurück hinter die eingefahrenen Regeln. Und nehmen eine neue Perspektive ein: auf einer Treppenstufe sitzend, anstatt auf einem Restaurantstuhl, auf dem Fahrrad, statt dem Auto, am Telefon mit einem Verwandten sprechend, anstatt allein am PC. Wir durchbrechen kollektiv den Grauschleier, die uns umgebende Watte, die so vielleicht zum letzten Mal kurz vor dem Mauerfall in Deutschland zu spüren war. Wir fassen uns an den Händen und schreien gemeinsam, ganz laut, entgegen jeder Angst, jeder Verzweiflung, jeder Verwirrung, in Erwartung eines neuen, noch schöneren, noch friedlicheren, ökologischeren, menschlicheren Lebens: werden Sie gesund !