Oberfläche eines abgesägten Holzstammes

Die Falten meines Hautarztes

Dieser Tage war ich, nach vier Jahren, endlich mal wieder beim Hautarzt. Ich habe nämlich viele Leberflecke genannte dunkle Punkte auf der Haut. Die müssen nicht zum ersten Mal untersucht werden, und erst Recht nicht zum ersten Mal herausoperiert. Es war schon die dritte Haut – Operation, die ich mit meinen 54 Jahren über mich ergehen lassen durfte. Der Befund war okay, wie es in der Fachsprache heißt, um es gleich mal vorweg zu nehmen. Meinem Hautarzt allerdings, schien es während der OP merkwürdig schlecht zu gehen. Er war lange nicht so entspannt wie bei der ersten Begegnung. Musste ich mir also Sorgen machen ?

Dienstag-Morgen-Fragen

Was bedeutet es, dass er nicht so gut drauf war ? Was bedeutet das ? Bin ich ein Sieg für ihn, oder eine Niederlage ? Bin ich Routine ? Was bedeutet es für ihn, wenn er mich nicht heilen können würde ? Oder was bedeutet das für ihn, wenn er mich nicht heilen kann, ich diese Heilung aber als selbstverständlich voraussetzen würde ? Und wie fühlt er sich, wenn ich nicht mal für die Operation dankbar bin ? Was bedeutet es ihm, wenn er sagen müsste: es kann keine Heilung geben ? Wäre er dann deprimiert ? Und: war er schon deprimiert als er mich schnippelte, weil er schon wusste, dass er mir eine unangenehme Wahrheit wird sagen müssen ? Oder war er einfach nur müde ? Hatte er sein erstes Morgentief ? War er mit den Gedanken etwa noch bei dem Patienten vor mir ? Oder bei dem – vielleicht doofen – Patienten nach mir ? Dachte er an seinen nächsten Urlaub, in den er nicht fahren möchte ? Oder an Corona ? Oder daran, dass er gerne eine Affäre mit seiner Sprechstundenhilfe hätte ? Hätte ich gerne eine Affäre mit ihr ? Denkt er, ich hätte eine Affäre mit ihr ? – Warum, verdammt, war mein Hautarzt so still ? Sonst war er doch auch nicht so ! Was ich alles erlebt habe – am Dienstag um zehn Uhr morgens in Deutschland.

Nicht so lustig

Das Alles ist natürlich gar nicht lustig. In diesem Jahr gibt es schon den zweiten Krebs-Fall in meiner Familie. Und mein Vater war ja auch vor 7 Jahren an dieser Krankheit gestorben. Und meine Oma, väterlicherseits, vor vielen Jahren auch. Ich habe also Grund zur Sorge. Denke ich. Warum gehe ich dann nicht öfters zur Vorsorge ? Das frage ich mich auch. Vielleicht, weil ich, wie Viele, im Hamsterrad stecke. Weil ich verdränge, dass das Leben nicht nur aus Arbeit besteht und es als eine “unzumutbare Störung” meines betrieblichen Ablaufes empfinden würde, wenn ich plötzlich krank würde. Das ginge gar nicht. Andererseits: warum sollen es immer nur die Anderen sein, die krank werden ? So besonders, wie ich gerne wäre, bin ich dann auch nicht. Das vergesse ich von Zeit zu Zeit. Wie viele andere auch. So what ?

Wir sind noch einmal davon gekommen

Diesmal bin ich also nochmal davon gekommen. Was heißt das schon ? Ist man “Opfer” einer Diagnose, wenn es einen erwischt ? Ist die Diagnose schuld, oder die Krankheit ? Oder der/die Ärzt:in ? Warum gelingt es mir immer nur in der Theorie “Krankheit als Chance” zur Transformation und Reifeprozess zu sehen. “Mach das weg” ist wohl eine häufige, verständliche, “normale” Reaktion, wenn Menschen eine Tumor-Diagnose bekommen. Niemand stellt sich die Frage – und seien wir ehrlich, es ist wird auch nicht besonders gefördert so zu denken – warum “das” da sein könnte. Vielleicht bin ich etwas naiv, aber ich stelle mir vor, dass es in der Natur nichts Überflüssiges gibt. Sonst würde es ja gar nicht existieren. Alle Materie, und ein Tumor ist ja auch Materie, ist Ausdruck einer “Idee”, eines “Gedankens”, eines “Willens”. Ich bin kein Arzt.

Ich bin kein Arzt

Anfang des Jahres bekam mein eine Verwandte ersten Grades eine schlimme Diagnose: Die Mandeln seien “verkrebst”. Um mich zu schonen bekam ich die Nachricht von meiner Familie erst nach der Operation. Corona – bedingt musste meine Verwandte alleine im Krankenhaus bleiben. Anfangs durfte noch ihr Mann zu ihr, dann niemand mehr. Drei Wochen lang. Obwohl meine Verwandte kaum sprechen konnte, sagte sie zu, dass wir jeden Tag wenigstens miteinander telefonieren würden. Und das taten wir. War sie anfangs noch schwach und zweifelnd, so wurde sie mit zunehmender Zeit immer kräftiger, obwohl ihre Prognose erst gar nicht so toll aus sah. Sie vertrug die Magensonde nicht, die man ihr eingesetzt hatte, konnte zeitweise nur durch Infusionen ernährt werden. Aber meine Verwandte wäre nicht die, die sie ist, wenn sie nicht einen unbändigen Lebenswillen hätte. Sie rappelte sich auf. Sie wollte nicht, dass “der Krebs das letzte Wort” habe würde, oder Corona, oder die Einsamkeit, oder ihre schwache Konstitution. Drei Monate später, als ich endlich besuchen durfte, sah sie fast aus wie früher. Was würde mein Hautarzt dazu sagen ?

Text auf Bild: Andra Tutto Bene

Werden Sie gesund !

“werden sie gesund” hören
lesen:

Überall hört man jetzt diesen Satz, meist zum Abschied, auch im Telefonat oder in der Email: Bleiben Sie gesund ! Ich frage mich, was das heißt: bleiben Sie gesund ! Was meint die Person, die mir diese Wünsche hinterher schickt ? Gibt es einen Zweifel ? Gibt es einen Zweifel an meiner gegenwärtigen oder zukünftigen Gesundheit ? Kennt mich mein Nachbar, meine Nachbarin, meine Marktverkäufer:in, der Steuerberater, oder die Zahnärztin so gut, dass sie meint, ich – mein Zustand – könnte aus dem Gleichgewicht sein, so dass ich eventuell anfällig für eine Infektion, einen Unfall oder eine genetische Krankheit sei ? Ich, der ich doch ganz gesund aussehe ? Der mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht. Inmitten wankender Menschen, die nicht ein, noch aus zu wissen scheinen vor lauter Sorge. Oder will mein Gegenüber – entgegen sonstiger, hochgetakteter Floskelhaftigkeit, etwa ernsthaft einen guten Wunsch an mich richten ? Mit quasi allgemeiner, menschlicher, einladender Geste ? Einer Geste des guten Willens, der guten Nachbarschaft ? Meint der Nächst-Mensch es am Ende sogar gut mit mir ? Will mein Bestes ? Ist freundlich, gar: respektvoll ?Respekt.

Respekt

Ha, Respekt ! Das ist überhaupt so etwas. Wo ist der geblieben ? Erleben wir jetzt die Wiedereinführung einer ehemals allgemeingültigen Kulturform ? Zwar noch etwas zaghaft, denn Respekt heißt jetzt erst einmal, etwas militärisch, Abstand. Sogar eineinhalb Meter Abstand, bei sehr respektvollen Menschen sogar “zwei Meter Abstand”. Ich bin dafür in Zukunft aus “eineinhalb Meter Abstand” “eineinhalb Meter Respekt” zu machen. Ich hätte gerne “eineinhalb Meter reinen Respekt” könnte man den Marktverkäufer:innen über die Ladentheke hinweg zurufen. Das Virus sorgt für große Lücken in unseren Reihen, aber es hat es bislang nicht geschafft, die Rüpelhaftigkeit auszurotten. Interessant. Ständig rennt mir zum Beispiel jemand in meine – jetzt auch staatlich verordnete – Aura hinein. Ich will schon in Altnormalzeiten immer in die Menge brüllen: “Sie Auraverletzer, Sie!”. Die Ellenbogenmentalität wird nur durch schlechte Ausatmungskultur ersetzt, der SUV quasi durch den kleinstmöglichen Einkaufswagen. Was früher blaue Flecken waren, sind heute potentielle Ansteckungsgefahren, eingeatmetes Mettbrötchen, sozusagen.

Im Freien

Ihr respektlosen, auraverletzenden Mettbrötchen-Ausatmer:innen ! Oft wird man ja auch beim Joggen von hinten angehustet. Das war auch schon früher nicht toll. Aber was heißt hier “früher”? Vor Corona ? Waren eigentlich vor Corona die Leute gesünder als jetzt ? Das wage ich zu bezweifeln. Ich stelle sogar die steile These auf, dass wir es jetzt alle sind: Wir sind viel an der frischen Luft, bewegen uns, und nach überstandener “heißer Phase” werden wir den Wert von Berührungen, Familie, Live-Erlebnissen und Stammkneipen völlig neu zu schätzen wissen. Auch den Wert von Demokratie und einer funktionierenden Verwaltung, by the way. Was heißt also: bleiben sie gesund ? Ich würde viel lieber sagen: werden Sie noch gesünder !

Wos hoast dös jetzt für mi ?

“Wos hoast das denn jetzt für mi ?”, um es mal einfach auf wienerisch zu fragen ?! Dös hoast, dass ich jetzt eine völlig neue Lebensweise einübe. Die für das 21.Jahrhundert, endlich. Was hoast dös für die “ältere Generation” ? Die ältere Generation ist ja eine schweigende, und sie hat es nicht lernen dürfen über Gefühle zu sprechen. In der jetzigen Isolation spürt sie vielleicht wie gut es wäre, überhaupt reden zu können, mit irgendjemandem, über irgendetwas. Vielleicht lernt die Kriegskindergeneration, dass sie auch einfach mal reden muss, reden darf, reden sollte. Und meine Generation ? Die der Mitte 50-Jährigen ? Die Generation der Kriegsenkel. Was lernen wir ? Zum Beispiel, dass wir uns auch mal ausruhen dürfen, dass wir entfliehen können, für 5 Minuten, dem Rattenrennen, dem ewigen Hamsterrad. Müssen auch nicht immer den Clown geben, den Unterhalter. Wir können kurz innehalten, traumatisierte Weltkriegsüberlebende zu bespassen. Wir dürfen nachdenken, was wir wirklich brauchen, was uns wirklich etwas wert ist, zum Beispiel unsere Familien – und nicht nur der neueste Sportwagen vor der Tür.

Martin im Alltag
Mann in Lüneburg

Der Schrei.

Was machen wir also mit unseren Gefühlen, die jetzt hochkommen ? All diejenigen Gefühle, die im Alltag des nie enden wollenden Turbokapitalismus keinen Platz finden dürfen ? Wir drücken sie aus ! Wir lassen sie heraus ! Als Schrei, als Tanz, als Kunstwerk, als Musikstück, als Sandburg, als Bild, als Text, als Kraftsport, als Wutausdruck, als Abstandsregel ! Wir nehmen Abstand von unseren Alltagsgewohnheiten, treten einen Schritt zurück hinter die eingefahrenen Regeln. Und nehmen eine neue Perspektive ein: auf einer Treppenstufe sitzend, anstatt auf einem Restaurantstuhl, auf dem Fahrrad, statt dem Auto, am Telefon mit einem Verwandten sprechend, anstatt allein am PC. Wir durchbrechen kollektiv den Grauschleier, die uns umgebende Watte, die so vielleicht zum letzten Mal kurz vor dem Mauerfall in Deutschland zu spüren war. Wir fassen uns an den Händen und schreien gemeinsam, ganz laut, entgegen jeder Angst, jeder Verzweiflung, jeder Verwirrung, in Erwartung eines neuen, noch schöneren, noch friedlicheren, ökologischeren, menschlicheren Lebens: werden Sie gesund !