Im Theater hängen vor Premierenbeginn – meist schon zu den sogenannten Endproben, also den Durchläufen des ganzen Stückes, beziehungsweise den so genannten „Hauptproben“ – kleine Zettel an den Türen zum Eingang der Gänge im Backstagebereich. Meist sind diese Zettel kleine Tabellen mit Namen und Uhrzeiten. Sie bestimmen, welche Schauspielerin bzw. welcher Schauspieler welche(n) Maskenbildner:in am Abend bekommt. Wer für einen zuständig ist, die Maske anzulegen und die letzten Minuten vor dem Auftritt mit dem/der Künstler:in zu teilen. Meist sind dies aufregende Minuten. Der Maskenbildende (sagt man das so? Ich sage das jetzt mal so) muss also Nerven haben und Geduld und eine ruhige Hand. Es können aber auch ruhige Minuten sein. Konzentrierte. Beruhigende oder gar meditative. Wenn`s länger dauert.
Ein weiß schimmerndes Wunder
Meist ist man als Spieler sehr gespannt, ob man/frau seinem/ihrem Lieblingsmaskenbildenden zugeteilt wird. Denn obwohl eigentlich alle professionell arbeiten, so ist es doch besonders schön, wenn auch hier die Chemie stimmt. Ich will jetzt keine grundsätzlichen Debatten führen, oder Erläuterungen geben, wie so ein „Schminktermin“ abläuft. Das wäre, kurz beschrieben, jede Art solcher Vorgänge: Zwischen „schnellem Hingepinsele“ und „Kunstwerk“, je nach Qualität und Anforderung, gibt es alle Varianten. Nun, man war in den letzten zwei Jahren schon froh, wenn es überhaupt zu einem Schminktermin, sprich, zu einer Theateraufführung kam. Denn oft hatten die Theater schließen müssen, oder es wurde „bis zur Bühnenreife“ geprobt und anschließend das Stück auf Eis gelegt. Letzteres bedeutete zumindest, dass eine „Maske“ auch probiert wurde, auch wenn es dann nicht zum Vollzug, also zu einer Aufführung auf offener Bühne vor Zuschauer:innen kam. Kam es, in Zwischen-Lockdown-Zeiten, dann irgendwann doch dazu, dann erlebte der Schauspielende sein, meist weiß schimmerndes Wunder: die Zuschauenden trugen nämlich auch alle Masken !
Was soll das ?
Es schauten also Menschen in Masken auf Menschen mit Masken. Und Beide fragten sich: was soll das ?Normalerweise hat eine Maske die Funktion dem Tragenden „die Maske vom Kopf zu reißen“, sie hat etwas Enthüllendes. Durch die Maske entfaltet sich das „wahre Innere“ des Charakters, den man spielt. Dadurch wird der Schauspielende zum Spiegel für den Zuschauenden. Schaut man als Schauspielender nun in all diese maskierten Gesichter so fragt man sich auf der Bühne allen Ernstes, wer hier die wahre Komödie aufführt. Der Zuschauer wirkt nun spiegelbildlich auf den Spieler. Zumal die Aufführung durch keinerlei störendes Hüsteln, Niesen oder Bonbonkauen mehr gestört wird. Oh je. Dadurch wusste man auf der Bühne wenigstens, dass ES noch lebt (okay, das war jetzt böse). Durchs Maskentragen wird die Masse noch anonymer. Das schwarze Loch, in welches man blickt wird, wird noch abgründiger. Der Abgrund, in dem man als Spieler meistens sowieso zu fallen droht, wird plötzlich sichtbar. Gewissermaßen zweidimensional. Wie Fernsehen. Der „fernsehspielende“ Akteur beobachtet nun sich selbst, wie er sich beim „Fernseh-Spiel“ beobachtet.
Das kleinere Übel
Bitte nicht falsch verstehen. Natürlich ist das Maskentragen im Zuschauerraum das kleinere Übel. Natürlich ist es besser und sicherer, wenn da Leute mit Maske sitzen, als wenn da niemand säße, niemand sitzen könnte, oder dürfte, die Vorstellung eben gar nicht stattfände. Natürlich freut man sich als Spielender, wenn man in blitzende Äuglein starrt, man freut sich manchmal mehr, als wenn man die Gähner sähe. Unbenommen. Dennoch bleibt ein Rest Unwohlsein. Ein Rest von Frage, wer hier wen beobachtet und in wie man aus diesem Lazarett eigentlich wieder herauskommt. Und vor allem: wann. Mittlerweile – es ist jetzt mittlerweile das „Jahr zwei komma fünf“ nach Tag X, also dem ersten Corona-Lockdown, ist Vieles wieder möglich. Theoretisch kann der Zuschauerraum zu 100% wieder besetzt werden. Es gibt keine Maskenpflicht mehr. Auch nicht im backstage-Bereich. Das ist gut so. Und was bleibt ? Wer bleibt ? Wer ist geblieben ? Wer ist gegangen, beziehungsweise wer kommt wieder ?
Eine starke Rolle: Zuschauende
Was bleibt, das ist zumindest die Erkenntnis, dass auch Zuschauende eine starke Rolle spielen: nämlich die der Zuschauenden im Theater. Sie sind nicht selbstverständlich. Wir haben es bei den vielen „Geisterpremieren“ erfahren: Ohne Publikum kein Theaterspiel. Ohne Publikum wird der Akt auf der Bühne zur bloßen (Beschäftigungs-)therapie für arbeitswütige, darstellende Künstler. Also sind Bühnenkünstler:innen nicht nur für das Publikum da, sondern auch das Publikum für den Spielenden. Erst durch die Anwesenheit von Publikum kann Theaterkunst entstehen. Theater existiert nicht zum hehren Selbstzweck. Es ist Selbstvergewisserung, Spiegel und Unterhaltungsapparat einer immer freien , aber haltloser werdenden Gesellschaft – deren nicht unwesentlicher Teil die Künstler selber sind. Wo sollen diese hin, wenn nicht in die – auch für sie ! – geschaffenen Institutionen ? Die Entscheidung, Theater zu spielen, findet ja meist schon sehr früh statt. Es ist wie Zirkus. Kann man sich einen Akrobaten oder ein Akrobatin im Call-Center vorstellen ? Natürlich ! Aber im Ernst, jetzt mal nachgedacht: was wäre das für eine Verschwendung von Talent und Spezialwissen. Darstellende Künstler sind Fachkräfte. Nicht alle, aver viele sind unabdingbar für den Humus von Gesellschaft, die sich ja ständig selber neu erfinden muss, will sie überlebensfähig bleiben.
Gegenseitige Wertschätzung
Wenn man als Schauspielender also jetzt im Gang vor der Maske vor einen Zettel tritt, mit Namen und Zahlen, wie „6o Minuten vor Beginn“, oder „bei Britta“, dann darf man zweierlei hoffen: erstens, dass der Spielende sich des Aktes seiner eigenen Verwandlung in eine Bühnenfigur so bewusst ist, und sie so wert schätzt, dass er diese Verwandlung komplett werden lässt, alles Private außen vor lässt und sich bis nach dem Abschminken seiner Berufung zu 100% hingibt. Und zweitens: Dass die „Maskierung des Zuschauenden“ eine hoffentlich temporäre Erfahrung war, die der Menge im Zuschauerraum bewusst hat werden lassen, welch wahnsinnig wichtige Rolle sie in der Theaterkunst spielt. Und die das Erlernte und Erfahrene heraus ind die Gesellschaft trägt, ja, tragen muß.
09.06.2022