Am 20. April 2023 habe ich einen Auftritt im One World Kulturzentrum in Reinstorf bei Lüneburg. Ich umsegele an diesem Abend Kap Horn. Und zwar in einer Viermastbark im Jahre 1911. Ich bin der Leichtmatrose Robert, der Kapitän Clauß, der Matrose Wilhelm Franke, der an Bord in vielen Stürmen Leben rettet und so Ziehharmonika spielt, dass die Todgeweihten Matrosen ihre Sorgen und Erschöpfung vergessen. Ich singe mit Buby Twesten, einem Accordionisten, Seemannlieder und lausche gebannt den Familiengeschichten der Minne Nolze, der Tochter von Robert Clauß, der diesen Augenzeugenbericht 60 Jahre nach der denkwürdigen Umsegelung verfasst hat. Die Bark hieß Renne Rickmers und hatte vier Masten. Robert Clauß hat seine Familie immer dorthin bestellt, wo er gerade an Land ging, teils Abenteuer, teils Belastung für Frau und Kinder. In der Pause leutet ein Zuschauerkind an einer Schiffsglocke – diese ist im Besitz von Jens Thomsen, des Impresario (so würde die schon öfters in diesem Blog erwähnte „Tante Edith“ sagen) des One World Reinstorf. Er war es auch, der mir 7 Wochen zuvor an einem Sonntag um kurz nach sieben Uhr über facebook eine Nachricht sendete: hast Du Lust mit mir diesen Text zu lesen, in der Reihe „Unsere Geschichten“? Jens Vater, der in Hamburger Seemannskneipen verkehrte, hatte einige Jahre zuvor diesen Bericht von einem anderen Kapitän, der auch Mitglied der „Kap Horniers“ (der Vereinigung der Seefahrer, die Kap Horn umrundet haben) war, geschenkt bekommen. Beim Ausmisten gefunden, war er nun begierig eine Live-Veranstaltung zu kreieren, die dem gar nicht mal so trockenen Text, Leben einhaucht und eine längst untergegangene Ära wieder auferstehen lässt. Es ist ihm gelungen.
Mit an Bord war eben jene Kapitäns-Tochter Minne Nolze, die nach der zweistündigen Lesung schier unaufhaltbar ihre Geschichten preis gab. Eine Form der „mündlichen Überlieferung“, wie sie Jens Thomsen, der eine Kindheit in Ghana verlebte, auch hier und jetzt wieder auferstehen lassen möchte. Als Schauspieler denke ich sofort: ja, das ist der Ursprung von Theater: wir erzählen uns Geschichten. Wir lauschen gebannt. Das kann man in Reinstorf hervorragend. Die weichen Ledersessel oder die Bänke am Rand des großen Tanzsaales laden zum Verweilen ein, man genießt ein Dachs-Bier, der örtlichen Brauerei, und lässt sich von der Lichtbilder (ja, es sind alte Schwarz-Weiß-Fotos!)-Präsentation alter Segelschiffe und Stürme vor Kap Horn beeindrucken, die Jens Thomsen extra für diesen Abend zusammengestellt hat. Die Bilder wurde ihm auch von der Vereinigung der Kap Horniers zur Verfügung gestellt, sie waren auch schon mal Teil eines Blogs. In disem Artikel könnt ihr die ganze Geschichte nachlesen.
https://nanareloadednet.wordpress.com/2017/03/12/kap_horn/
Am Abend des 20. April 2023 kommen circa 30 Leute ins Kulturzentrum. Teils sind sie schon 1 Stunde vorher da, um in der Gastronomie einen neuseeländischen Pie zu genießen, oder was die hervorragende Küche an diesem Tag sonst so gezaubert hat. Der Abend beginnt mit einem Einspieler. Neben Geräuschen eines Hochsee-Sturmes sehen wir einen alten Schwarz-Weiß-Film mit Aufnahmen eines Segelschiffes im Sturm, unter widrigsten Umständen gefilmt. Alles auf der großen Leinwand hinter der Bühne des Saales. Als die Geräusche verblassen, kommt unser Auftritt: Wir lesen mit Headsets, weil der Raum doch ziemlich groß ist, und die Leute recht verteilt sitzen. Das klappt sehr gut. Was uns vorwärts treibt, schon bei den Proben, ist die Hochspannung während der „52 Tage an See“, die sich an Bord hält. Die Lesung vergeht wie im Flug. Keine Flaute. Viele sind begeistert von der Authentizität sowohl des Original-Textes, als auch durch die Direktheit der Sprache Jens Thomsen`s, dessen Geschichte e s ja ursprünglich ist.
Ziehharmonika – nicht nur ein schönes Wort
Aufgelockert wird schon während des Textes, als von Wilhelm Franke als Ziehharmonika-Vortragendem die Rede ist, der Abend durch den plattdeutschen Sänger Buby Twesten, der nicht nur „La Paloma“ zum Besten gibt. Nach der Pause dauert es eine Weile, bis wieder „Ruhe an Bord“ ist. Einige haben sich noch etwas zu Essen bestellt, und die „Kombüse“ arbeitet auf Hochtouren, um pünktlich allen Bestellungen gerecht zu werden. Es werden Fotos geschossen, unter anderem hat Minne Nolze eine Fahne mitgebracht: die der Vereinigung der „Kap Horniers“. Diese ziert u.a. eine Möwe, derern „freier Flug“ allerdings von der Zange der Seefahrer „bezwungen“ wurde. Highlight der Requisite sind an diesem Abend die Original-Seestiefel des Capitän Claus, die Jens Thomsen auf einem kleinen Tisch mit Extra-Scheinwerfer auf der Bühne postiert hat. Die Stiefel waren zu Ausscheiden des Capitän Clauß wohl schon 60 Jahre alt und haben dann noch seit 1973 im Keller gestanden. Die Über-Knie-Schaftstiefel haben diese lange Zeit hervorragend überstanden. Jeder möchte ein Fotos davon. Nach Minne Nolze`s überborderndem Frage und Antwort-Spiel beenden wir das Erlebte mit Applaus und einem weiteren Getränk. In die Spenden-Box ist diesmal nicht soviel geworfen worden, aber „Eintritt frei“ nehmen viele Menschen gerne wörtlich, was in Zeiten von hoher Inflation aber verständlich ist.
Alles in Allem bin ich sehr froh, Teil dieses schönen Projektes und der Reihe „Unsere Geschichten“ gewesen zu sein. Ich wünsche Jens Thomsen, dem One World Reinstorf und der Reihe „Unsere Geschichten“ alles Gute und eine wachsende Zahl an Zuschauenden.
P.S. Die Fotos in diesem Blogartikel stammen von Inga Auch-Johannes.
echt super Text, Martin
Vielen Dank !